Der Traumhändler
Prostituierten und einem Puritaner, einem Intellektuellen und einem Geisteskranken. Sein Einfühlungsvermögen war beeindruckend.
Während man im Fernsehen sah, wie Leute, die vor laufender Kamera festgenommen wurden, das Gesicht versteckten, um nicht erkannt zu werden, versteckte sich der Mann, der vor mir auf der Bühne stand, keineswegs. Mir fiel wieder ein, was er dem Psychiater auf dem Alpha-Gebäude gesagt hatte, als wir uns begegnet waren: Es gäbe zwei Arten des Wahnsinns, und die seine wäre eben sichtbar. Was für ein Mut! Und jetzt, nachdem ihn seine Gegner bloßgestellt hatten, zeigte er seine Wunden vor über fünfzigtausend Menschen, ohne sich ihrer zu schämen. Mit der größten Aufrichtigkeit ließ er uns bis auf den Grund seiner Seele schauen.
Bei seinem Geständnis, dass er sein Fundament verraten hätte, fragte ich mich allerdings, wer denn wohl kein Verräter war. Welcher Moralist war nicht manchmal unmoralisch sich selbst gegenüber? Welcher Gläubige versündigte sich nicht durch Hochmut oder Trägheit gegen Gott? Welcher Idealist verletzte nicht seine Überzeugungen im Namen vordergründiger Interessen? Welcher Mensch kompromittierte nicht seine Gesundheit durch zu viel Arbeit? Wer schadete nicht seinem Schlaf, weil er die Spannungen mit zu Bett nahm? Wer vernachlässigte nicht seine Kinder durch zu viel Ehrgeiz und gab dann vor, doch für sie zu arbeiten? Wer betrog nicht seine Liebe zum Partner durch mangelnde Kommunikation in der Ehe?
Wir verraten die Wissenschaft mit unseren absoluten Wahrheiten, die Schüler mit unserer Unfähigkeit, ihnen zuzuhören, die Natur mit unserer technologischen Entwicklung. Der Meister hatte uns davor gewarnt, die Menschheit zu verraten, indem wir uns zuallererst als Juden, Palästinenser, Amerikaner, Europäer, Chinesen, Weiße, Schwarze, Christen und Muslime verstehen. Wir sind alle Verräter, die nichts dringender brauchen, als Träume zu kaufen. Wir beherbergen alle einen »Judas« in unserer Seele, der Spezialist darin ist, seine wahren Gefühle unter dem Mantel von Aktivismus, Ethik, Moral und Gerechtigkeit zu verbergen.
Als würde er meine Gedanken lesen, blickte der Meister mich an, richtete sich dann aber wieder an die Menge: »Die Interpretation dieser Vision – mögen sie einige auch als Halluzination bezeichnen – brachte mich zu der Erkenntnis, dass ich schon lange vor dem Verlust meiner Familie und Freunde psychisch erkrankt war.«
Er lächelte und sagte scherzhaft: »Also Vorsicht, meine Damen und Herren, Sie haben es mit jemandem zu tun, der bereits seit geraumer Zeit verrückt ist!«
Die Zuhörer lächelten auch. Die so entstandene Atmosphäre war schwer zu beschreiben.
»Nachdem mir bewusst geworden war, dass ich mein Fundament verraten hatte, musste ich neu herausfinden, wer ich eigentlich war. Also verließ ich die Klinik, um nach mir selbst zu suchen. Es war ein langer Weg, auf dem ich mich oft verlaufen habe. Doch als ich mich entdeckt hatte, verließ ich das Nest und wurde zu einer Schwalbe, die über die Straßen segelt, um die Menschen anzuregen, nach sich selbst zu suchen.«
Dann bewies er ein weiteres Mal seinen Sinn für Humor und sagte: »Vorsicht, liebe Leute, dieser Wahnsinn ist ansteckend.«
Die Zuhörer lächelten erneut und brachen dann in tosenden Applaus aus, so als wünschten sie sich nichts sehnlicher, als genauso wie ich, Bartholomäus, Barnabas, Jurema, Monika, Dimas und viele andere angesteckt zu werden.
Der Tag, an dem ich meinem Leben ein Ende setzen wollte und der Traumhändler ein Gedicht rezitierte, das mich zu meinem Fundament zurückfinden ließ, wird mir jedenfalls ewig in Erinnerung bleiben, genauso wie die Zeilen seines Gedichts:
Gelöscht sei der Tag, an dem dieser Mann geboren wurde!
Verdunstet der Tau, der an diesem Morgen das Gras
benetzte!
Verlöschen soll die Helligkeit des Tages, die den
Wanderern Freude spendete!
Voll Leiden sei die Nacht, in der dieser Mann empfangen wurde!
Der Glanz der Sterne am Himmelszelt sei ihr entrissen!
Lächeln und Ängste der Kindheit seien dem Mann
genommen!
Seiner Jugend Übermut und Abenteuer geraubt!
Und der Zeit der Reife gestohlen die Träume und
Albträume, klaren Momente und Spleens!
Die ansteckenden Ideen des Traumhändlers hatten uns gelehrt, nicht zu verleugnen, wer wir wirklich sind. Sie wirkten wie ein Gegengift, denn bevor wir ihn trafen, waren wir alle »normal« gewesen, nämlich krank. Wir hatten uns gewünscht, wie Götter zu sein, und dabei
Weitere Kostenlose Bücher