Der Traumhändler
er sie begierig in sich auf. In seinem Geiste formte sich daraus schließlich die Frage, die später aus dem Mund all derer kommen sollte, die den Weg des Fremdlings kreuzen würden: »Ist dieser Mann verrückt oder genial? Oder gar beides?«
Er versuchte, die Nuancen dessen, was er gehört hatte, zu erfassen, obwohl ihn dies große Anstrengung kostete.
Sein unerschrockener Gesprächspartner schaute wieder in die Höhe und schlug einen neuen Tonfall an. Er begann, Gott in einer Weise zur Rede zu stellen, die Julio nie zuvor vernommen hatte: »Gott, wer bist Du? Warum schweigst Du vor dem Wahnsinn einiger Deiner Jünger und warum besänftigst Du die Zweifel der Skeptiker nicht? Warum verbirgst Du Deine Bewegungen hinter den Gesetzen der Physik und Deine Handschrift hinter dem, was ›zufällig‹ passiert? Dein Schweigen beunruhigt mich!«
Obwohl Julio Religionssoziologe war und sich mit Christentum, Islam, Buddhismus und anderen Religionen bestens auskannte, halfen ihm deren heiligen Schriften nun nicht dabei, den Geist des Fremden zu verstehen. Er wusste nicht, ob dieser ein respektloser Atheist war oder jemand mit besonderer Nähe zum Schöpfer allen Lebens … Der brillante Professor fragte sich immerzu: »Wer ist dieser Mann? Wie ist er hier aufgetaucht? Woher kommt er?«
Der Ruf
I n der modernen Gesellschaft sind die Menschen, sogar diejenigen in führenden Positionen, völlig vorhersehbar. Ihre Reaktionen sind trivial, ihr Verhalten weckt weder Emotionen noch regt es die Fantasie an. Was diesen sogenannten »normalen Menschen« fehlt, hatte der geheimnisvolle Mann, der vor Julio stand, im Überfluss. Dessen Neugierde, zu erfahren, wer der Fremde war, steigerte sich derart, dass er ihn noch ein weiteres Mal befragte, wobei er diesmal jedoch den Blick zunächst nach innen wendete in der Gewissheit, dass er über sich selbst sehr wenig wusste.
»Ich weiß nicht, wer ich bin; ich muss mich erst noch finden. Trotzdem bitte ich Sie inständig, mir zu antworten: Wer sind Sie?«
Der Mann lächelte, denn Julio begann, seine Sprache zu sprechen. Inspiriert wandte er sich dem Sonnenuntergang zu, breitete die Arme aus und verkündete mit großer Überzeugung: »Ich bin ein Traumhändler!«
Julios intellektueller Geist verdunkelte sich. Es schien ihm, als habe der Fremde plötzlich die Geistesklarheit verloren, um in geistiger Verwirrung zu versinken. Während die Bezeichnung, die er sich selbst gegeben hatte, für ihn einfach alles sagte, sagte sie dem verblüfften Julio rein gar nichts.
Unterdessen schrie Bartholomäus unten auf der Straße immer noch herum und belästigte die Umstehenden: »Der Anführer der Außerirdischen! Er steht mit offenen Armen da und hat die Farbe gewechselt!« Immerhin handelte es sich diesmal nicht um eine Halluzination, sondern wohl nur um eine Fehldeutung … Der Traumhändler fasste sich wieder, blickte auf die Menge und reagierte auf befremdliche Weise, nämlich mit Mitleid.
Und Julio rieb sich die Augen. Er konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. In seiner Rationalität gefangen, fragte er: »Ein Traumhändler? Was soll das sein?«
Der Fremde war ihm so intelligent erschienen! Auf hohem intellektuellem Niveau hatte er Julios Überzeugungen erschüttert und dann Ordnung in seine geistige Verwirrung gebracht; aber jetzt, wo sein Denken sich aufklarte, zogen wieder dunkle Wolken auf! Julio hatte noch nie gehört, dass sich jemand so bezeichnet hätte.
Der Psychiater, etwa fünfundzwanzig Meter von beiden entfernt, hatte sofort seine Diagnose parat und rief den Einsatzleitern von Feuerwehr und Polizei zu: »Ich wusste es! Sie sind von derselben Kategorie!«
Der Fremde hatte, während er sich so merkwürdig titulierte, seinen Kopf nach rechts gewendet und auf dem Nachbargebäude einen Scharfschützen erblickt, der aus einem Abstand von ungefähr hundertfünfzig Metern auf ihn zielte. Mit meisterhafter Reaktionsschnelligkeit zog er Julio mit sich zu Boden. Dieser verstand nicht, was vor sich ging, und war völlig perplex. Um seine Verstörung nicht noch zu steigern, sagte der Traumhändler: »Wenn Sie dieser Sturz schon erschreckt hat, können Sie sich jetzt vielleicht vorstellen, wie es sich anfühlt, aus dieser Höhe dort unten auf der Straße aufzuschlagen!«
Die Menge dachte, der komische Kauz hätte den Selbstmörder vom Sprung abgehalten. Die Männer standen auf, und der Traumhändler blickte zum Horizont. Der Scharfschütze war verschwunden. Hatte er etwa
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