Der Traumhändler
ihm andererseits auch in den Sinn, dass ein jeder Denker bislang unbeschrittene Wege einschlagen sollte.
Julio war trotz seiner schweren emotionalen Störung und seines maßlosen Stolzes ein überlegter Mensch und hatte sich vor der Situation auf dem Dach des Alfa-Gebäudes noch nie blamiert. Er wusste, dass er einen Riesenskandal verursacht hatte, doch war es kein Theater gewesen; er hatte seinem Leben wirklich ein Ende setzen wollen. Und da er es nicht über sich gebracht hätte, sich zu erschießen oder mit Medikamenten zu vergiften, war er auf das Gebäudedach gestiegen.
Die Einladung des Fremden hallte nun in seinem Geist wider. Sie war wie der Einschlag einer Granate, deren Tausende von Splittern all seine Paradigmen in Schutt und Asche legten. Eine lange Minute verstrich. Julio fühlte sich hin- und hergerissen und dachte: »Ich habe versucht, unter dem Schutzdach des Erfolgs und auf dem Fundament der beruflichen Sicherheit zu leben, bin aber gescheitert. Ich wollte meine Studenten zwar dazu anregen, eigenständig zu denken, habe aber nur viele Nachplapperer ausgebildet. Ich wollte eigentlich einen Beitrag zur Gesellschaft leisten und war stattdessen eine Insel des Hochmuts. Wenn ich es jetzt schaffen könnte, wenigsten einigen Menschen ein paar Träume zu verkaufen, so wie dieser geheimnisvolle Mann sie mir verkauft hat, hätte mein Leben vielleicht mehr Sinn als bisher.«
Und Julio beschloss, dem Fremden zu folgen.
Ich, der Erzähler dieser Geschichte, bin Julio, der erste Schüler dieses außergewöhnlichen Mannes.
Er ist mein Meister geworden. Ich war der Erste, der es riskiert hat, ihm auf einem völlig unvorhersehbaren Weg ohne vorgeschriebene Richtung und Ziel zu folgen. War das Wahnsinn? Vielleicht, aber kein größerer als der, den ich zuvor erlebt hatte.
Der erste Schritt
A ls der Fremde und ich dem Schauplatz gemeinsam den Rücken kehrten, hielt uns einer derjenigen an, die uns bis dahin aufmerksam beobachtet hatten. Es war der Einsatzleiter der Polizei, ein eins neunzig großer Mann mit leichtem Übergewicht, tadelloser Uniform, graumeliertem Haar, faltenlosem Teint und der Ausstrahlung eines Menschen, der die Macht liebt.
Er interessierte sich jedoch nicht für mich. Den Umgang mit Selbstmördern war er gewohnt; er hielt sie für schwach und gestört. Ich war für ihn nur eine weitere Zahl in seiner Statistik. Das missfiel mir, denn ich spürte den bitteren Geschmack des Vorurteils. Immerhin war ich viel gebildeter als dieser bewaffnete Hohlkopf. Meine Waffen sind die Ideen, die mächtiger und wirksamer sind als jede Kugel. Aber ich hatte keine Kraft, um mich zu verteidigen. Das war auch nicht nötig, denn an meiner Seite war ein Geschoss mit unglaublicher Durchschlagskraft – der Mann, der mich gerettet hatte.
Das eigentliche Interesse des Polizisten bestand darin, meinen Retter zu befragen. Er wollte wissen, wer dieser Aufrührer war, dessen Verhalten in seiner Statistik nicht vorkam. Er hatte zwar wenig von unserem Gespräch hören können, doch dieses wenige hatte auch ihn überrascht. Ungläubig musterte er den Traumhändler von oben bis unten. Der Fremdling schien aus der Gesellschaft gefallen zu sein. Unruhig begann der Beamte seine Befragung, und ich spürte, dass er genau wie ich in ein Wespennest treten würde.
»Wie heißen Sie?«, fragte er in arrogantem Ton.
Der Mann an meiner Seite fixierte ihn kurz, um dann das Thema zu wechseln und ihn mit folgender Frage zu schockieren: »Sind Sie nicht froh darüber, dass dieser Mensch gerade eine neue Richtung eingeschlagen hat? Jubeln Sie nicht, weil sein Leben gerettet ist?« Dabei deutete er auf mich.
Der kühle Polizeibeamte fiel von seinem Sockel herunter. Er war entwaffnet, hatte nicht erwartet, dass sein Mangel an Einfühlungsvermögen innerhalb weniger Sekunden bloßgestellt würde. Beschämt, jedoch steif, sagte er: »Natürlich freue ich mich für ihn!«
Jeder, der dem Meister dumme Antworten gab, wurde von diesem dazu gebracht, seine Grobheit einzusehen, denn er wurde mit der eigenen Oberflächlichkeit und den Ausdünstungen der eigenen Torheit konfrontiert. So torpedierte der Meister ihn weiter: »Wenn Sie sich darüber freuen, warum zeigen Sie es dann nicht? Warum fragen Sie ihn nicht nach seinem Namen und gratulieren ihm? Ist am Ende das Leben eines Menschen nicht mehr wert als der Einsatz der Ordnungskräfte?«
Der Polizist war schneller bloßgestellt worden als ich, während ich mich schon darüber freute, dass
Weitere Kostenlose Bücher