Der Traumhändler
Halluzinationen? Wer sollte sich den Tod eines so einfachen Menschen wünschen, wie er es war? Dann sah man die Männer am Rand des Daches stehen.
Julio blickte den Fremden an, und dieser versicherte noch einmal: »Ja, ich bin ein Traumhändler.«
Für einen Moment war Julio verwirrt und meinte, der Mann vor ihm sei eine Art Handlungsreisender. Aber angesichts dessen, was er aus seinem Munde gehört hatte, konnte das nicht sein. Neugierig fragte er: »Wie das? Was für Produkte verkaufen Sie denn?«
»Ich versuche, den Unsicheren und Ängstlichen Mut zu verkaufen, den Unvorsichtigen Vernunft, den Denkern Kritikfähigkeit und denjenigen, die die Liebe zum Leben verloren haben, Freude.«
Julio, der sich gerade auf seine umfassende akademische Bildung besann, sagte in einem Anfall von Stolz zu sich selbst: »Das kann nicht sein! Ich träume schlecht! Wahrscheinlich bin ich schon gestorben und habe es nicht gemerkt. Erst wollte ich mir das Leben nehmen, weil ich mich in meinen Problemen verrannt hatte, und jetzt bin ich anscheinend erst recht durch den Wind, weil ich jemandem gegenüberstehe, der mich gerettet hat und der sagt, dass er das verkauft, was nicht verkauft werden kann. Er verkauft das, wonach alle suchen, was aber nicht käuflich zu erwerben ist.« Und als wollte der Fremde Julios Überraschung noch steigern, fügte er hinzu: »Und denjenigen, die in ihrem Leben einen Schlusspunkt setzen wollen, versuche ich, ein Komma zu verkaufen, einfach nur ein Komma.«
»Ein Komma?«, fragte der Gelehrte verwirrt.
»Ja, ein Komma. Ein kleines Komma, damit sie ihre Geschichte weiterschreiben.«
Julio begann zu schwitzen. Plötzlich wurde sein Geist klar, und er verstand. Er hatte seinem respektlosen Gegenüber gerade ein Komma abgekauft, ohne es zu merken. Es hatte keinen Preis, keinen Druck, keine Erpressung, keine Aufforderung gegeben, aber er hatte es ihm abgekauft, um den Kern des Menschseins wiederzufinden. Er, der Intellektuelle, war zum Schüler des Zerlumpten geworden, der ihn mit sanfter Solidarität umhüllt hatte. Julio hob die Hände an den Kopf. Ob das, was ihm gerade geschah, real war?
Langsam wurde ihm, dem berühmten Professor, einiges klar. Er blickte nach unten und sah die Menge, die auf seine Reaktion wartete. Im Grunde waren all diese Menschen genauso verloren wie er selbst. Sie konnten zwar nach Belieben kommen und gehen, fühlten sich aber beladen und kontrolliert. Es fehlte ihnen die Freiheit, ihre Persönlichkeit zu entfalten.
Der Professor hatte das Gefühl, in einem surrealen Film zu sein, der aber gleichzeitig sehr konkret war. »Ist dieser Typ real oder nur ein Trugbild meiner überhitzten Fantasie?«, fragte er sich selbst in einer Mischung von Faszination und Verunsicherung. Nie zuvor hatte ihn jemand derart bezaubert wie dieser unergründliche Exot.
Darauf sprach der Mann eine Einladung aus, die ihn völlig aus dem Konzept brachte.
»Kommen Sie, folgen Sie mir, und ich mache Sie auch zu einem Traumhändler.«
Diese Aufforderung versetzte sämtliche Neuronen im Hirn des Intellektuellen in helle Aufregung, sodass er zu keiner Reaktion fähig war. Mit einem Kloß im Hals und wie gelähmt fragte er sich: »Was ist das für ein Vorschlag? Wie kann ich einem Mann folgen, den ich vor nicht mal einer Stunde kennengelernt habe?«
Gleichzeitig fühlte er sich jedoch unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Ruf angezogen.
Julio war der akademischen Debatten müde, obwohl er einer der redegewandtesten Intellektuellen des Landes war. Aber viele seiner Kollegen einschließlich seiner selbst lebten in einem Morast aus Neid und unerträglicher Eitelkeit. Julio spürte, dass es in den Universitäten an Toleranz, Anreiz zu widerständigem Denken und jener Prise Tollheit fehlte, die nötig sind, um Kreativität freizusetzen. Einige dieser Wissenstempel waren so starr geworden wie die dogmatischsten Religionen. Die Professoren, Wissenschaftler und Denker waren nicht frei, sondern mussten die Vorgaben ihrer Fachbereiche befolgen.
Und nun stand Julio vor einem schlecht gekleideten Mann mit wirrem Haar und bar jeden gesellschaftlichen Glamours, der jedoch anregend, abenteuerlustig, im Denken rebellisch, kritisch, mitreißend und frei war und der ihm außerdem den verrücktesten aller Vorschläge machte: Träume zu verkaufen. »Wie? Wem denn? Mit welcher Absicht? Würde ich zum Gespött der Leute oder würde ich Beifall ernten?«, fragte er sich. Während ihn die Aufforderung einerseits verwirrte, kam
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