Der Traumhändler
hatte. Danach erlebten wir an der Seite des Meisters noch viele weitere Abenteuer, und die Ablehnung, der wir dabei begegneten, schweißte uns immer enger zusammen.
Mindestens einmal pro Woche lud der Meister Menschen, die wir auf unserer Wanderschaft durch die Großstadt trafen – Bauarbeiter, Tankstellenwärter, Mechaniker, Müllmänner, aber auch Künstler – in unser großes Haus unter freiem Himmel ein. Dort setzten wir uns auf alten Obstkisten zu einer großen Runde zusammen, um von ihrem Leben zu hören und mit ihnen über das Gesellschaftssystem zu diskutieren.
Während sie darüber beglückt waren, dass sich jemand wirklich für sie interessierte, genossen wir es, etwas von den Schwierigkeiten, Hoffnungen, Träumen, Albträumen, Leidenschaften und Enttäuschungen dieser unbekannten und uns gleichzeitig so nahen Menschen zu erfahren. Ich empfand diese Runden als eine magische Lehrzeit und einzigartige soziologische Erfahrung.
Unterdessen wuchs der Ruhm des Meisters in der Stadt, und er wurde immer mehr zu einer mythischen Figur. Manchmal zeigten Leute aus dem vorbeifahrenden Auto auf ihn und riefen: »Ist das nicht der Typ, der das Verkehrschaos beim Alpha-Hochhaus verursacht hat? Hat der nicht auch das Altersheim und diese Trauerfeier aufgemischt?« Die Sensationsgier der Leute war groß; es fehlte nicht mehr viel, und sie hätten erzählt, er habe den Toten wieder auferweckt.
Eines Tages erkannte ihn ein etwa sechzigjähriger, gequält dreinblickender Mann auf der Straße. Er rief hinter uns her und beschleunigte dann seinen Schritt, bis er uns erreicht hatte.
»Meister, ich habe dreißig Jahre lang meiner Firma gedient, in den letzten Jahren als äußerst erfolgreicher Manager. Doch irgendwann wurde dem Chef mein Erfolg zu viel. Er begann, mir Steine in den Weg zu legen, und hatte plötzlich immer etwas anderes an mir auszusetzen. Ich wurde regelrecht fertiggemacht und am Ende entlassen. Mein Blut habe ich für das Unternehmen gegeben, und dann haben sie mich weggeworfen wie einen gebrauchten Plastikbecher! Ich fühle mich verraten und leide unter starken Depressionen. In einer anderen Firma noch mal von vorn anzufangen traue ich mir nicht mehr zu. Es werden ja sowieso junge Leute bevorzugt, die niedrigere Gehälter akzeptieren. Meinen ehemaligen Chef hasse ich abgrundtief. Ich weiß nicht mehr ein noch aus!«
Seine Lippen zitterten. Auf dem Gipfel seiner Qual schien er um Erleichterung zu flehen. Der Meister schaute erst uns und dann ihn an und bemerkte: »Unter allen Lebewesen kennen nur die Menschen Neid und Rache. Ihr Chef hat Sie beneidet, weil Sie fähiger waren als er selbst. Rächen Sie sich an ihm!«
Ich war verwirrt. Was für einem Mann folgte ich da? War er etwa nicht der Meister der Versöhnung?
Bartholomäus dagegen gefiel die Haltung des Meisters. Stürmisch rief er aus: »Genau! Aug um Aug, Zahn um Zahn. Gib dem Burschen ordentlich eins auf die Mütze!« Und Dimas plusterte sich auf: »Wenn du einen Kumpel brauchst, um die Sache zu erledigen – hier ist er!« Dabei nahm er die Pose eines Karatekämpfers ein.
Honigschnauze ließ sich anstecken. Er stieß Kampfesschreie aus und hüpfte angriffslustig herum, um zu beweisen, wie kampferprobt er war. Dann vergaßen sich die beiden und gingen aufeinander los. Dabei gab Dimas Bartholomäus versehentlich einen solchen Hieb auf den Kopf, dass dieser zu Boden ging und für einen Augenblick das Bewusstsein verlor. Ich war geschockt.
Als wir Bartholomäus wieder aufhalfen, fragte dieser Dimas: »Bist du wütend auf mich?«
Ihm wurde langsam klar, dass »Zahn um Zahn« eine gefährliche Sache war.
Der entlassene Manager wusste angesichts unserer Sippschaft nicht, ob er weinen oder lachen sollte. Dann fragte er den Traumhändler: »Aber, Meister, wie soll ich mich denn rächen?«
Die Antwort kam ohne Zögern: »Töte ihn!«
Mir blieb das Herz stehen. Das hatte ich nie und nimmer erwartet. Meine Beine begannen zu schlottern, und ich war drauf und dran, mich aus dem Staub zu machen. Hasserfüllt verriet der Mann nun seine wahren Absichten: »Genau das habe ich gerade vor! Dieser Hundesohn verdient es nicht, weiterzuleben!«
Bevor er jedoch davonstürmen konnte, um seinen Plan in die Tat umzusetzen, hakte der Meister nach: »Die größte Rache an einem Feind besteht darin, ihm zu verzeihen. Töte ihn in dir selbst!«
»Wie das?«, fragte der Mann überrascht.
»Nur ein Schwächling tötet den Körper seines Feindes. Der Starke tötet die
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