Der Traumhändler
versuchten, Träume zu verkaufen, verkauften wir in Wirklichkeit Peinlichkeiten. Wir schauten zu den Altenpflegern hinüber und sahen, dass sie ebenfalls ungerührt waren. Wie wir waren sie der Meinung, die Alten stünden sowieso schon mit einem Fuß im Grab und warteten nur auf den Tod. Als der Nachmittag zu einem der schlimmsten zu werden drohte, den wir seit unserer Begegnung mit dem Meister erlebt hatten, erschien er. Sofort gingen mehrere alte Leute auf ihn zu und umarmten ihn überschwänglich, sodass uns klar wurde, dass er das Heim häufiger besuchte.
Dann nahm er uns die Instrumente aus der Hand und gab sie ans Publikum weiter, obwohl die Alten so schwach waren, dass sie sie kaum halten konnten. Wir dachten, sie wüssten gar nicht, was eine Gitarre, ein Kontrabass oder ein Saxophon sei. Doch zu unserer Überraschung griffen sich drei alte Männer namens Lauro, Michel und Lúcio die Gitarren und den Bass, stimmten geschickt die Saiten und begannen, furios aufzuspielen. Ungläubig rissen wir die Augen auf. Sie waren so gut, dass wir eine Gänsehaut bekamen.
Eine alte Dame hatte sich das Saxophon genommen, und was sie dem Instrument entlockte, haute uns schlicht um. Ich war sprachlos. Hatte das Altersheim nicht wie ein Abstellgleis für alte Leute ausgesehen?
Beschämt mussten wir unsere Unwissenheit und Missachtung eingestehen und erkennen, dass an diesem Ort begabte, sachkundige, erfahrene Menschen lebten, die ihr Potenzial nicht mehr ausschöpfen konnten.
Der Meister hörte der improvisierten Band freudestrahlend zu. Dann reichte er Bartholomäus’ Mikrofon einem sehr alten Mann, der kaum noch stehen konnte, dessen unvergleichliche Stimme jedoch sogar die von Frank Sinatra übertraf. Kurz darauf rief der Meister die alten Damen und Herren, die sich noch bewegen konnten, auf die Tanzfläche und begann, mit ihnen zu tanzen. Da stürzte auch ich mich ins Gewimmel. Es war ein Riesenspektakel. Die Alten selbst mischten das Altersheim mit ihrer Freude auf. Endlich fühlten sie sich wieder als Menschen!
Wir hatten uns vor ihnen blamiert, hatten ihnen respektlos das Schlechteste vom Schlechten geboten und wirklich gedacht, ihre Sinne und Gefühle vertrügen jeden Mist, nur weil sie alt und schwach waren und ein schlechtes Gedächtnis hatten. Im Gegensatz zu mir hatten aber viele von ihnen eine wunderbare Kindheit gehabt, und so war das Kind, das in ihnen schlummerte, wieder erwacht.
Später sagte der Meister, er hätte uns zu den Alten geschickt, damit wir von ihnen Träume kauften und nicht umgekehrt. Dann lehrte er uns, dass es keine unnützen Menschen gibt, sondern nur Menschen, die nicht wertgeschätzt werden und deren Potenzial deshalb verkümmert.
Bei diesen Worten fiel mir – wieder einmal! – wie Schuppen von den Augen, welch großen Fehler ich in meiner Jugend gemacht hatte.
Mein Großvater Paulo war extrovertiert und gesellig gewesen. Er war fünfzehn Jahre nach meiner Mutter gestorben. Doch ich war ihm nie in seine Welt gefolgt. Da ich mich von meinen Onkeln, Tanten und Cousins abgelehnt fühlte, lehnte ich schließlich auch meinen Großvater ab. Jedes Opfer ist zugleich auch Täter. Ich hatte zwar seine Fähigkeit bewundert, Instrumente zu spielen, ihn aber nie gefragt, welche Sorgen und Nöte er in seinem Leben durchstehen musste. Ich hatte seine gute Laune und seinen reichen Erfahrungsschatz nie zu schätzen gewusst. Weil ich es versäumt hatte, das zu empfangen, was ein so erstaunlicher Mensch mir hätte geben können, hatte ich viel verpasst.
Zum Abschluss des Tages äußerte der Meister ein paar Gedanken, die mir unvergesslich geblieben sind: »Die Spanne zwischen Jugend und Alter ist kürzer, als ihr denkt. Wer als junger Mensch die Welt der Alten missachtet und sich nicht erfreut an dem, was sie geben können, hat seine Jugend nicht verdient. Täuscht euch nicht – der Mensch stirbt nicht etwa, weil sein Herz aufhört zu schlagen, sondern weil er das Gefühl hat, nicht mehr wichtig zu sein.«
Mir wurde klar, wie viele alte Menschen wir bereits für tot erklären und in Heimen begraben, auch wenn wir ihnen dort die nötige Betreuung gewähren, damit sie körperlich überleben. Aber im Grunde praktizieren wir seelische Euthanasie.
Der Tempel der Elektronik
S chnell sprachen sich die Ereignisse im Altersheim in der ganzen Stadt herum, jedoch nicht, weil etwa ein Journalist vor Ort gewesen wäre, sondern weil ein Altenpfleger fotografiert und die Bilder an eine Zeitung weitergegeben
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