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Der Traumkicker - Roman

Der Traumkicker - Roman

Titel: Der Traumkicker - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Hals.
    Mit seinem geliebten Büchsenmikrophon in der Hand und kleinen Speichelbläschen im Mundwinkel ging er von Tisch zu Tisch und interviewte die Spieler, den Schiedsrichter und den technischen Mannschaftsstab. Oder er kletterte auf Wunsch seiner Hörerschaft auf den Tisch und erzählte noch einmal aus dem Gedächtnis die Geschichte der Tore und die entscheidenden Spielzüge der Partie. War er betrunken und jemand trieb ihn zur Weißglut, platzte er mit einer Reihe aberwitziger Schmähungen heraus, und manchmal wurde er nur deshalb geärgert, weil man ihn zetern hören wollte:
    »Du bösartiges epithelisches Geschwulstgesicht mit deinem knorpeligen Metaplasma!«, »Du Auswuchs der großen Enddarmgeschwulst!», »Du Lymphdrüsensack!«, »Beim großen Einlauf und allen phenylalaninen Hydrolasen!« Das waren einige seiner liebsten Verwünschungen.
    Manchmal saß er mit einem Bier in der Hand eine Weile nachdenklich da und spulte dann mit leerem Blick, als wäre er bei einer mündlichen Prüfung, Sachen ab wie: »Onkozyten: veränderte Epithelzellen mit eosinophilem, granulärem Zytoplasma, die infolge Vermehrung und Vergrößerung geschwollen erscheinen. Vorkommen: vor allem in Drüsen, z.B. Speicheldrüsen, Schilddrüse.«
    Für die meisten von uns waren diese traumverlorenen Klinikschwadronaden schon nicht mehr weiter erstaunlich. Wer sie zum ersten Mal hörte, schlackerte allerdings mit den Ohren und sagte hinterher, wie die arme Sau auch hätte bei Verstand bleiben sollen bei all demabsonderlichen Unsinn, den er hatte auswendig lernen müssen.
    Das größte Vergnügen an diesen eruptiven Zitaten aus dem klinischen Wörterbuch empfand allerdings Tuny Robledo, unbestritten der Intellektuelle des Teams. Obwohl man sagen muss, dass der nur sehr selten mit in die Kneipe kam. Er ging nach dem Spiel lieber in die Leihbücherei oder stellte sich vor die Konditorei Ibacache und hoffte, dass die Tochter von Don Celestino beim Einkaufen vorbeikam. Die seltenen Male, wenn er uns begleitete, trank er ausschließlich Limo und verbiss sich außerdem in die immer gleiche Diskussion mit seinen Mannschaftskameraden. Sich mit beiden Händen an den Kopf greifend, klagte er theatralisch, wie um alles in der Welt man so vernagelt sein könne, etwas derart Grundlegendes nicht zu kapieren: »Dass wir, wenn ich diesen Ball zu Beginn des Spiels nicht vergeben, sondern verwandelt hätte, dass wir dann vielleicht nicht drei zu null gewonnen hätten, wie ihr behauptet, und nicht mal zwei zu null, wie geschehen, sondern dass wir sogar zwei zu eins hätten verlieren können. Oder vier zu zwei. Oder wir hätten elf zu elf unentschieden gespielt. Oder was auch immer, verdammt. Das Spiel hätte auch abgebrochen werden können wegen der Landung einer fliegenden Untertasse im Mittelkreis. Weil sich nämlich, wenn ich dieses Tor in der ersten Spielminute geschossen hätte   – aber das geht euch Fuselmolchen ja offenbar nicht ins Hirn!   –, weil sich dann der gesamte Spielverlauf geändert hätte.«
    »Und nicht bloß der Spielverlauf«, mahnte er am Endemit erhobenem Zeigefinger, »sondern sogar der Lauf der Sterne im Universum hätte sich geändert.«
    An dem Punkt bewarfen wir ihn mit Korken und Bierverschlüssen, überschütteten ihn mit Häme und schickten ihn Flugblätter an die Bullen verteilen, was damals zu Diktaturzeiten so viel hieß, wie ihn zum Teufel zu schicken oder hoch auf den Berg, um nachzusehen, ob sich die Geier dort im Badeanzug sonnten.
    Weil wir in dieser ersten Zeit in unserer Siedlung die Militärregierung eher als etwas Nebelhaftes, Konturloses erlebten. Bei uns patrouillierten nicht wie in den großen Städten Soldaten mit Maschinengewehren durch die Straßen, aber wir hatten trotzdem das beklemmende Gefühl, Tag und Nacht überwacht zu werden, als lebten wir in einem offenen Gefängnis. Selbst die Tage des Putsches waren nicht weiter dramatisch gewesen, verglichen mit dem, was sich in anderen Salpetersiedlungen abspielte, wo Leute erschossen oder gefoltert wurden oder verschwanden. Bei uns wurden die vier oder fünf »heiklen« Arbeiter, die in der Gewerkschaft den Mund aufgemacht hatten, ein bisschen ins Gebet genommen, und ansonsten ging das Leben, abgesehen von den Warnschüssen, die die vier Polizisten der Station nach der Sperrstunde abfeuerten, fast seinen gewohnten Gang.
    Aber es war dieses fast , das uns nervös machte, ein fast , das wir empfanden, als wäre der Horizont ringsum mit Stacheldraht

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