Der Traummann aus der Zukunft (German Edition)
ihren Rock wieder herunter, drehte sich um und zog das Buch aus dem Regal: Soziologische Diagnosen der Gegenwart. Eine Bestandsaufnahme. Es war gar nicht zu groß, sondern hatte nur auf dem Buchrücken gelegen.Emilia blätterte gedankenverloren darin. Bernhard griff nach seiner Hose, lächelte und schüttelte den Kopf wie ein Vater über sein Kind, dessen Dummheiten so niedlich sind, dass man ihm nicht böse sein kann.
„Emilialein…vielleicht können wir ja morgen frühstücken gehen und dann ein bisschen in den Wald. Bis dahin müsste ich das hier geschafft haben…okay?!“ Er stand auf und streichelte ihre Wange.
„Okay“, flüsterte Emilia, stellte das Buch aufrecht zurück und verließ das Zimmer.
Die Wut-Wolke hing jetzt schwer hinter Emilias Stirn und drückte ihr auf die Augen. Und dann liefen die ersten Tränen. Wieder einmal fiel Emilia auf, dass Bernhard ein eigenes Zimmer hatte, während sie mit dem Wohnzimmer oder Schlafzimmer vorlieb nehmen musste, das man nicht hinter sich abschließen konnte. Emilia flüchtete ins Badezimmer und ließ Wasser in die Wanne laufen, damit keiner ihr Schluchzen hören konnte. Mit jeder Träne schien ihre aggressive Entschlossenheit, Bernhard zu verlassen, abzufließen, bis nur noch ein dunkler Raum körperloser Angst übrig blieb. So war das immer. Emilia fühlte sich schon lange unglücklich, aber sie verließen die Kräfte, etwas dagegen zu unternehmen, noch ehe sie den ersten Schritt machen konnte.
Sie sah in den Spiegel. Ihre blonde Lockenmähne wirkte im Zusammenhang mit ihrem rot gefleckten Gesicht und den verquollenen Augen wie eine Perücke. Sie wandte sich schnell wieder ab und stieg in die Badewanne. Das Wasser war wohltuend kühl und beruhigend. Natürlich würde sie sich nicht trennen. Es lief ja nicht immer so dramatisch ab. Die Vorstellung, allein zu sein, war einfach schlimmer. Außerdem, was sollte Emilia dann tun? Sie hatte seit Jahren keinen richtigen Job mehr, zumindest keinen, der nicht von Bernhard abhing. Für Dekorateurinnen jenseits der fünfunddreißig sah es einfach nicht gut aus. Und sie hatte Jonathan, der dieses Jahr sechzehn wurde, und dessen leiblicher Vater noch nie Unterhalt gezahlt hatte, weil er sich nach wie vor von einem nicht funktionierenden Lebensentwurf zum nächsten hangelte. Bernhard sorgte seit zehn Jahren für Emilia und Jonathan. Er musste sich dafür nicht kaputt arbeiten. Emilia lektorierte hin und wieder seine Arbeiten oder Bücher seiner Kollegen und trug etwas bei zur Familienkasse. Ansonsten hatte sie Zeit zum Malen. Sie zeichnete gern kleine bunte Bilder und Karikaturen, die sie manchmal auch als Postkarte drucken ließ und verschickte. Bernhard fand das eine nette Beschäftigung. Sie besaßen eine schöne Altbauwohnung im grünen Bezirk Pankow von Berlin. Alles war perfekt. Was hatte sie nur?
Warum konnte sie Bernhards Launen nicht einfach ignorieren und ihr Leben leben? Wieder drängten Tränen heran. Emilia schluckte sie hinunter und trocknete sich ab. Jonathan übernachtete heute zum Glück bei seinem besten Freund Anton. Dann brauchte sie vor ihm keine Ausrede für ihr Tief erfinden, die er sowieso nicht mehr richtig glaubte.
Emilia zog sich ihre alte gemütliche Zuhause-Sommerhose an. Sie schlug ihr Notizbuch auf und entwarf ein Durchgang Verboten -Schild für sabbernde Hunde und Leute ohne Unterhosen.
Zufrieden mit ihrem Entwurf schenkte sie sich ein Glas tiefroten Wein ein und setzte sich mit ihrem Laptop auf ihren kleinen Balkon, der in ein abendliches Rosa getaucht war. Sie würde ihrer Freundin Hilda mailen. Das half immer. Emilia und Hilda kannten sich inzwischen fast fünfzehn Jahre und waren sich zum ersten Mal in einem Club begegnet. Emilia hatte in einer Sofaecke geheult, weil sie gerade verlassen worden war und Hilda auch. Emilia hatte genug Taschentücher dabei gehabt und Hilda genug Geld, um noch ein paar Drinks zu bestellen. Hilda zog noch in derselben Nacht bei ihrem Exfreund aus und bei Emilia ein. Später, als Hilda eine eigene Wohnung gefunden hatte, chatteten sie fast täglich oder schrieben sich E-Mails. Es war wie Tagebuch schreiben, nur besser, weil man eine Antwort bekam. So schleusten sie sich gegenseitig durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Sie telefonierten so gut wie nie. Ein Telefonat konnte schließlich jeder mithören. Mails dagegen waren diskret und verschwiegen. Vor allem tat es gut, manche Dinge hin und wieder nachzulesen. Emilia schaute in ihr
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