Der Tristan-Betrug
Sicherheitsdienst, gehörte zu den wenigen Männern im SD, die Rasierwasser benützten. Die meisten SD-Männer hielten solche Angewohnheiten für unmännlich und affektiert.
Da Müller weder am Abendessen noch an dem Hauskonzert teilgenommen hatte, musste er dienstlich Wichtigeres zu tun gehabt haben. Kleist beschloss, auf die Reprise zu verzichten und den vierten Satz in rascherem Tempo zu nehmen, um das Stück zu Ende zu bringen. Es gab zu tun.
Der Beifall war begeistert, herzlich und laut, wenn man berücksichtigte, dass nur etwa fünfundzwanzig Zuhörer anwesend waren, alles SD-Führer mit ihren Ehefrauen oder Freundinnen. Kleist nickte dankend und hastete zur linken Seite des Raums hinüber, wo Müller auf ihn wartete.
»Wir sind bei den Ermittlungen deutlich weitergekommen«, sagte Müller ruhig.
Kleist, der seine Violine in einer Hand und den Bogen in der anderen hielt, nickte. »Die Funkstation«, sagte er.
»Richtig. In der Touraine hat die RAF letzte Nacht Lastenfallschirme abgeworfen. Mehrere Behälter mit Funkgeräten und Ersatzteilen dafür. Unser Informant hat uns den Abwurf gemeldet.« Er fügte selbstgefällig hinzu: »Unser Informant hat sich noch nie getäuscht. Er ist überzeugt, dass dieser Abwurf uns zum réseau führen wird.«
Das französische Wort für Netz war ihr Deckname für den Spionagering, gegen den sie ermittelten.
»Die Funkgeräte sind nach Paris gebracht worden?«, fragte Kleist. Jemand hielt sich in der Nähe auf und wollte ihm vermutlich zu seinem Spiel gratulieren. Kleist drehte sich um, erkannte die Frau nicht, nickte brüsk und wandte sich wieder Müller zu. Die Frau entfernte sich.
»In eine Wohnung in der Rue Mazagran unweit der Porte Saint-Denis.«
»Dort befindet sich die Funkstation? In der Rue Mazagran?«
Müller schüttelte den Kopf. »Die Wohnung dient nur als Zwischenlager. Sie gehört einer alten Nutte.«
»Sind die Geräte ausgeliefert worden?«
Müller lächelte und nickte langsam. »Tatsächlich sind sie abgeholt worden. Von einem Agenten, den wir für einen Engländer halten, der hier unter falschem Namen lebt.«
»Und?«, fragte Kleist ungeduldig.
»Er hat unsere Leute abgehängt.«
»Was?« Kleist seufzte angewidert. Die Unfähigkeit vieler SD-Ermittler war grenzenlos. »Sie wollen, dass ich mit dieser Nutte rede«, sagte er.
»Möglichst bald«, sagte Müller. »Sie haben übrigens recht gut gespielt. War das Bach?«
*
Die Nutte ging ihrem Gewerbe unter dem großen Triumphbogen nach, der im 17. Jahrhundert zur Feier der Siege Ludwigs XIV. in Flandern und im Rheinland errichtet worden war. Insgesamt standen dort sogar fünf Nutten. Sie schwatzten miteinander, während sie ihre Gesichter und Körper den Passanten zuwandten: abgehetzte Männer, die sich beeilten, um vor Beginn der Ausgangssperre zu Hause zu sein. Sie konnte jede dieser Frauen sein, begriff Kleist.
Als er in seiner frisch gebügelten grünen SD-Uniform an ihnen vorbei schlenderte, stellte er fest, dass drei von ihnen zu jung waren, um die von Müller beschriebene »alte Nutte« zu sein, deren Wohnung als Zwischenlager für die von der Royal Air Force abgeworfenen Funkgeräte gedient hatte. Nach Müllers Auskunft war die Nutte Anfang vierzig und hatte einen 24jährigen unehelichen Sohn, der in der Résistance aktiv war. Sie ließ ihren Sohn ihre Wohnung oft als Zwischenlager benützen. Nur zwei der Prostituierten sahen alt genug aus, um einen 24jährigen Sohn zu haben.
Kleists Nasenlöcher weiteten sich. Sie fingen die unverkennbare Geruchsmischung auf, die er mit französischen Prostituierten in Verbindung brachte: der Gestank nach billigen Zigaretten und nach den billigen Parfüms, die sie notorisch benützten, um mangelhafte Hygiene zu verbergen. In ihre starken weiblichen Körpergerüche mischte sich der Geruch von nicht ganz abgewaschenem Sperma. Eine ziemlich abstoßende Mischung.
Sie alle bemerkten seine Uniform, die er absichtlich anbehalten hatte. Einige von ihnen hatten sich ihm zugewandt, lasziv gelächelt und ihm in schlechtem Deutsch einen guten Abend gewünscht. Die beiden, die sich diese Mühe sparten, waren die älteren Nutten, was ihn nicht überraschte. Wahrscheinlich verabscheuten die älteren Frauen die deutschen Besatzer mehr als die jüngeren. Er blieb stehen, lächelte die Nutten an und wandte sich ihnen wieder zu. Diesmal ging er dichter an ihnen vorbei.
Als er nahe genug heran war, konnte er Angst riechen. Wie Kleist aus Erfahrung wusste, traf es nicht
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