Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
unaufdringlich, und die Kürze der Speisekarte ließ darauf schließen, daß jedes Gericht mit ganz besonderer Aufmerksamkeit zubereitet wurde. Wie sich herausstellte, war das Essen nichts Besonderes, dafür aber der Wein kühl, und sie tranken eineinhalb Flaschen davon. Sie plauderten mehr, als daß sie sich unterhielten, höflich, ungezwungen, wie alte Bekannte. Sie vermieden es, von sich oder von den Ferien zu reden. Statt dessen erwähnten sie gemeinsame Freunde und fragten sich, wie es ihnen wohl gehe, entwarfen gewisse Arrangements für die Heimreise, sprachen über Sonnenbrand und die relativen Vorzüge von Brustschwimmen und Kraulen. Colin gähnte mehrfach.
    Erst als sie draußen waren und mit leichtem Unwohlsein im Schatten gingen, hinter sich die beiden Ober, die ihnen von den Terrassenstufen nachsahen, vor sich die schnurgerade Allee, die vom Strand und vom offenen Meer zur Kaianlage und zur Lagune führte, hakte Colin seinen Zeigefinger um Marys - es war zu heiß, um sich an den Händen zu halten - und erwähnte das Foto. War ihnen Robert mit seiner Kamera überall gefolgt? Folgte er ihnen auch jetzt? Mary zuckte die Achseln und blickte sich um. Auch Colin sah sich um. Überall waren Kameras, schwebten wie Aquarienfische vor einem wässerigen Hintergrund aus Gliedmaßen und Kleidern, aber Robert war natürlich nicht da. »Vielleicht«, sagte Mary, »findet er dein Gesicht hübsch.«
    Colin zuckte die Achseln, zog seine Hand zurück und betastete seine Schultern. »Ich habe zuviel Sonne abbekommen«, erklärte er.
    Sie gingen zur Kaianlage. Die Menschenmengen verließen jetzt die Restaurants und Bars und strömten an den Strand zurück. Um voranzukommen, mußten Colin und Mary vom Bürgersteig herunter und auf der Straße gehen. Als sie ankamen, lag nur ein Boot am Kai, und das war gerade dabei abzulegen. Es war kleiner als die normalen Boote, die über die Lagune fuhren. Das schwarzgestrichene Steuerhaus und der Schornstein, der die Form eines zerbeulten Zylinders besaß, gaben dem Boot das Aussehen eines verwahrlosten Leichenbestatters. Colin schritt schon darauf zu, während Mary noch einen Fahrplan am Fahrkartenhäuschen studierte.
    »Es fährt zuerst um die andere Seite der Insel herum«, sagte sie, als sie ihn einholte, »beim Hafen sticht es dann zu unserer Seite durch.«
    In dem Moment, als sie an Bord stiegen, begab sich der Bootsführer ins Steuerhaus und der Motorton schwoll an. Die Einmannbesatzung - der übliche junge Mann mit Schnurrbart - stieß ab und knallte die Metallbarriere zu. Diesmal waren es sehr wenige Passagiere, und Colin und Mary standen einige Schritt auseinander, beiderseits des Steuerhauses, und starrten die Buglinie entlang, wie sie um ferne, hochberiihmte Kirchtürme und Kuppeln herum schwang, vorüber am großen Uhrturm, bis sie auf die Friedhofsinsel zur Ruhe kam, von hier aus nichts weiter als ein diesiger Klecks, der sich am Horizont hochschob.
    Als der Kurs stimmte, lief der Motor in einem angenehmen, rhythmischen Fließen zwischen zwei Tönen, die weniger als einen Halbton auseinander- lagen. Während der ganzen Fahrt - ungefähr fünfunddreißig Minuten - sprachen sie nicht miteinander, warfen sich nicht einmal einen Blick zu. Sie setzten sich auf zwei aneinanderstoßende Bänke und starrten weiterhin geradeaus. Zwischen ihnen stand die Einmannbesatzung, die in der halboffenen Tür des Steuerhauses lehnte und ab und zu ein Wort mit dem Lotsen wechselte. Mary hatte das Kinn auf den Ellbogen gelegt. Colin schloß von Zeit zu Zeit die Augen.
    Als das Boot bei der Anfahrt auf den Landungssteg am Krankenhaus langsamer wurde, kam er auf Marys Seite hinüber, um die Passagiere anzuschauen, die darauf warteten, an Bord zu gehen; es war eine kleine Gruppe, meist ältere Leute, die trotz der Hitze so dicht wie möglich zusammenstanden, ohne sich dabei zu berühren. Auch Mary stand und starrte zum nächsten Anlegeplatz, der über vierhundert Meter ungekräuselten Wassers hinweg deutlich zu erkennen war. Man half den älteren Passagieren an Bord, es erfolgte ein rascher Rufwechsel zwischen dem Lotsen und der Einmannbesatzung, und das Boot fuhr weiter, parallel zu dem Bürgersteig, den sie an dem gewissen Morgen vor fünf Tagen entlanggegangen waren.
    Colin stand dicht hinter Mary und sagte ihr ins Ohr: »Vielleicht sollten wir am nächsten Anlegeplatz aussteigen und zu Fuß durchgehen. Das wird schneller sein, als erst um den ganzen Hafen herumzufahren.«
    Mary zuckte die

Weitere Kostenlose Bücher