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Der Trost von Fremden

Titel: Der Trost von Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sie in den Wellen versunken oder hinter ihnen verborgen war.
    Er begann in ihre Richtung zu schwimmen. In besagtem Schwimmbad zu Haus führte Colin einen furiosen, schicken Kraulstil vor, der über eine Beckenlänge eine tiefe Furche ins Wasser grub, an guten Tagen auch über zwei. Auf größere Distanzen war er schwach und beklagte sich über das langweilige Hin- und Hergeschwimme. Jetzt begnügte er sich mit langen Zügen, bei denen er unter lautem Seufzen ausatmete, so als karikiere er eine Reihe trauriger Ereignisse. Nach fünfundzwanzig Metern mußte er pausieren, um Atem zu schöpfen. Er legte sich einige Sekunden auf den Rücken und trat dann Wasser. So sehr er auch die Augen zusammenkniff, Mary war nirgends zu sehen. Er schwamm wieder los, diesmal langsamer, und wechselte das Kraulen mit Seitenschwimmen ab, bei dem er leichter atmen und das Gesicht aus den Wellen halten konnte, die jetzt größer waren, sich glatt dahinwälzende Täler, deren Durchschwimmen Kräfte raubte. Bei der nächsten Pause, die er einlegte, konnte er sie eben erkennen. Er rief, doch seine Stimme war zu matt, und es schien ihn zu schwächen, soviel Luft auf einmal aus den Lungen zu pressen. Da draußen waren nur die allerobersten paar Zentimeter Wasser warm; wenn er Wasser trat, betäubte ihm die Kälte die Beine. Als er sich zum Weiterschwimmen umdrehte, bekam er eine Welle voll ins Gesicht und schluckte eine Menge Wasser. Er bekam keinen Hustenanfall, mußte sich aber auf den Rücken legen, um sich zu erholen. O Gott, sagte oder dachte er immer wieder, o Gott! Wieder schwamm er los, machte ein paar Kraulzüge und mußte aufhören; seine Arme waren vollgesogen, zu schwer, um sie aus dem Wasser zu heben. Er schwamm jetzt die ganze Zeit auf der Seite, schob sich durchs Wasser und kam nur unmerklich voran. Als er wieder eine Pause machte, nach Luft japste und den Kopf über die Wellen reckte, war Mary zehn Meter entfernt und trat Wasser. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Sie rief ihm etwas zu, aber das Wasser, das ihm um die Ohren schwappte, verwischte die Worte. Für diese letzten paar Meter brauchte er sehr, sehr lange. Colins Schwimmzüge waren zu seitlichen Strampelbewegungen verkommen, und als er kräftig genug war, um hochzuschauen, schien sich Mary weiter entfernt zu haben. Endlich erreichte er sie. Er streckte die Hand nach ihrer Schulter aus, und sie versank unter seinen Fingern. »Mary!« schrie Colin und schluckte noch mehr Wasser.
    Mary tauchte auf und schneuzte sich durch die Finger. Ihre Augen waren rot und klein. »Ist das nicht herrlich?« rief sie. Colin japste und grapschte nach ihrer Schulter. »Obacht«, sagte sie. »Leg dich auf den Rücken, sonst ertränkst du uns alle beide.« Er versuchte zu sprechen, doch als er den Mund aufmachte, bekam er ihn voll Wasser. »Nach diesen engen Straßen ist es hier draußen einfach wundervoll«, sagte Mary.
    Colin lag auf dem Rücken, die Arme und Beine gespreizt wie ein Seestern. Er hatte die Augen zu. »Ja«, sagte er schließlich mit Mühe. »Es ist fantastisch.«
    Als sie zum Strand zurückkehrten, hatte er sich bereits geleert, doch das Volleyballspiel war eben erst abgebrochen worden. Das große Mädchen ging mit gesenktem Kopf allein weg. Die übrigen Spieler schauten zu, wie der Affe hinterdrein hopste und im Rückwärtsgang vor ihr her mit den Armen extravagante, beschwörende Kreise beschrieb. Mary und Colin schleppten ihre Sachen in den Schatten eines aufgegebenen Schirms und schliefen eine halbe Stunde. Als sie aufwachten, war der Strand noch leerer geworden. Die Volleyballspieler und ihr Netz waren verschwunden, und nur die großen Familiengruppen mit ihren mitgebrachten Picknicks blieben da, dösten oder murmelten an Tischen, die mit Speiseresten übersät waren. Auf Colins Vorschlag hin zogen sie sich an und gingen zu der betriebsamen Allee, um sich dort etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Dies eine Mal fanden sie in weniger als einer Viertelstunde ein Restaurant, das ihnen zusagte. Sie saßen auf der Terrasse, im dichten, grünen Schatten einer knorrigen Glyzinie, deren Äste sich durch meterlanges Gitterwerk wanden und hin- und herschlangen. Ihr Tisch stand abseits und war mit zwei Lagen gestärkter rosa Tischtücher gedeckt. Das Besteck war massiv und verziert und auf Hochglanz poliert, in der Mitte ihres Tisches stak in einer Minivase aus hellblauer Keramik eine rote Nelke. Die beiden Ober, die sie bedienten, waren freundlich, doch angenehm

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