Der Tuchhändler (German Edition)
von mir ab und wich einer tiefen Ruhe. Es hatte unwiderruflich begonnen. Mein Kopf war plötzlich leicht.
»Vor dem Rathaus steht einer meiner Männer und wartet auf mich«, sagte ich ruhig. »Wenn ich in einer halben Stunde nicht wieder bei ihm bin, alarmiert er die ganze Stadt.«
Der Mann, der mich von hinten umklammert hielt, rührte sich nicht; noch immer drückte die Spitze des Messers gegen meine Kehle. Auch der Mann am Fuß der Treppe machte keine Bewegung. Ich spürte, wie sich der Speichel in meinem Mund sammelte, aber ich unterdrückte den Schluckreflex.
»Wer seid Ihr wirklich?« flüsterte der düstere Schatten zuletzt.
»Ich bin der, der ich sagte. Anders als Ihr habe ich mich mit meinem richtigen Namen vorgestellt.«
Er antwortete nicht; er schien angestrengt nachdenken zu müssen. Mit einem Kopfnicken hätte er meinen Tod veranlassen können – ich baute darauf, daß er es nicht tun würde. Alles, was er über mich wußte, waren ein paar Daten zu meiner Person und daß ich hinter ihm her war. Wenn er sich denken konnte, daß es wegen des Mordes an der Polin war, dann mußte er sich fragen, wieso ich darüber Bescheid wußte. Außerdem stand er unter Druck: Man hatte einige von seinen Männern verhaftet, sie gar aus seinem Unterschlupf gezerrt; mindestens einer war bereits tot. Er wußte nicht, ob ich dafür verantwortlich war und welche Macht hinter mir stand. Ich war ein Kaufmann; ich paßte ebensowenig in sein Bild der Ereignisse, wie er in meines paßte. Er war irritiert. Er mußte sich näher mit mir befassen, besonders, da schon zwei Anschläge gegen mich fehlgeschlagen waren. Ich neige nicht zum Heldentum, aber dieser Umstand war mir am Abend vorher so klar geworden, daß ich beschloß, meinen Hals dafür zu riskieren. Ich war mir beinahe sicher gewesen, daß ich ihn nicht verlieren würde; und ich hatte immer noch meinen Knecht, der mit unseren beiden Pferden vor dem Rathaus stand und den Auftrag hatte, im Falle meines Ausbleibens Hanns Altdorf er und die gesamte Stadtwache zu Leutgebs Haus zu führen.
»Laß ihn los«, befahl er unvermittelt dem Mann, der mich festhielt. Ich hörte, wie dieser enttäuscht schnaubte. Die Messerspitze blieb noch einen Augenblick länger an meinem Hals, dann löste er seinen Griff und stieß mich von sich. Ich taumelte ein paar Schritte in den Gang hinein und drehte mich um. Er war ebenfalls nur ein Schatten in der Düsternis, eine breite Gestalt neben der schmalen Figur der Frau, die sich gegen die Tür drängte.
»Johannes«, bat sie flehentlich, und der Mann, der mich festgehalten hatte, rief: »Du weißt doch, was er uns angetan hat. Wie kannst du ihn davonkommen lassen?«
»Er ist ja noch nicht davongekommen«, brummte der Mann am Fuß der Treppe. Ich hatte das Gefühl, daß er mich eingehend von Kopf bis Fuß musterte. »Außerdem hast du gehört, was er über seinen Helfer gesagt hat.«
»Wer weiß, ob es den überhaupt gibt.«
»Wir können ja abwarten und sehen, was passiert«, schlug ich vor. Ich wußte, daß ich im Moment die Oberhand hatte; mein Kopf war noch immer leicht, und ich hätte lächeln mögen.
Sie schwiegen daraufhin. Ich versuchte den Mann mit dem Messer im Auge zu behalten, aber er bewegte sich nicht von der Stelle. Im oberen Stockwerk schlug eine Tür, und ich hörte Schritte. Ich spähte zur Treppe hinauf: Die junge Frau, die ich bereits gesehen hatte, stand oben und schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund. Das Oberlicht aus dem weitem Treppenhaus fiel über ihre Haare, ihr Gesicht und ihr Kleid. Ihre Augen waren weit.
Der Schatten unten an der Treppe bewegte sich und trat auf mich zu; aus dem Augenwinkel sah ich, daß der Bursche mit dem Messer eine beunruhigte Bewegung in meine Richtung machte, als fürchte er, ich könne plötzlich eine Waffe zücken. Als der alte Mann bei mir angekommen war, konnte ich ihm ins Gesicht sehen.
»Guten Morgen, Herr Leutgeb«, sagte ich.
Er schnaubte und musterte mich nochmals eindringlich. »Das ist nicht mein Name.«
»Welcher ist es dann?«
Er zögerte; ich sah, daß er einen schnellen Blick zu den beiden Gestalten im Gang warf. Ich war mir sicher, daß beide den Kopf schüttelten. Er wandte sich wieder mir zu und forschte in meinem Gesicht.
»Ich kann Euch jederzeit töten lassen, ist Euch das klar?« fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern.
»In einer knappen halben Stunde müßt Ihr Euch darüber entschieden haben«, sagte ich. »So lange dauert es nämlich noch, bis mein
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