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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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er die Leiter hoch. Oben angekommen, stolperte er übertrieben und stieß ein schrilles
»Mon Dieu!«
aus. Dann trippelte er schwankend quer übers Dach und entlockte Abel damit das erste schwache Lächeln, seit er Julitas Leiche entdeckt hatte. Monsieur Verdoux setzte sich neben ihn.
    »Ich werde nie wieder jemanden lieben können«, schluchzte der Junge.
    In diesem Moment war er der festen Überzeugung, dass er bereits alle Liebe empfunden hatte, die ein Mensch empfinden konnte. Er überschlug, wie lange er wohl noch zu leben hatte, und es kam ihm entsetzlich lange vor. Am liebsten wäre er eingeschlafen und erst vierzig Jahre später wieder aufgewacht, wenn der Schmerz und die Tiefe seiner Liebe nachgelassen hätten.
    »Nie wieder? Nie wieder ist zu viel, Abel«, entgegnete Monsieur Verdoux. »›Nie wieder‹ dauert vielleicht … nun, fünf Jahre höchstens, schätze ich. Und in dieser Zeit wirst du nicht allein sein. Ich bin bei dir.
Wir
sind bei dir«, betonte der Franzose und sah ihn von der Seite an, um seine Reaktion zu beobachten.
    »
Wir
? Sprechen Sie von den Mönchen des Ordens San Juan de Acre?«
    »Ich weiß, dass du dort warst und dass sie dir alles erklärt haben … Ich weiß, dass du dich geweigert hast, die Mission deines Vaters fortzuführen. Aber weißt du was, Abel? Manchmal widersetzt sich das Schicksal unseren Wünschen auf grausame Weise … Manchmal ist das, was im Leben geschieht – auch das Unglück –, ein Zeichen.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«, rief Abel empört. »Dass es gut ist, was mit Julita passiert ist?«
    »Nein, nein! Natürlich nicht. Der Tod sollte nie die jungen Leute besuchen! Aber ich glaube, dass es deinen Kummer lindern könnte, wenn du etwas für die anderen tust. Wenn du dem letzten Willen deines Vaters entsprichst und einen jahrhundertealten Auftrag erfüllst, etwas, das viel größer ist als du, ich und selbst deine geliebte Julita. Tu es für sie. Es würde ihr sicher nicht gefallen, wenn du in deinem Unglück verharrst.«
    Als er den Namen des Mädchens hörte, krampfte sich sein Magen zusammen. Vielleicht hatte Monsieur Verdoux recht. Es hatte keinen Sinn, hier zu sitzen und die Sterne zu betrachten, um in ihnen Trost in seinem Unglück zu suchen. Vielleicht sagten ihm sein Vater und Julita von dort oben, was er tun sollte. Es gab keinen Grund, einfach so auf den Tod zu warten. Er hatte noch das ganze Leben vor sich, um das Versprechen zu halten, das er seinem Vater in dessen letzten Minuten auf Erden gegeben hatte. Ja, diesem Auftrag würde er sich widmen, bis ihn irgendwann der Tod erlöste.
    »Einverstanden«, sagte der Junge und nickte.
    Monsieur Verdoux befürchtete, dass Abel seine Meinung ändern könnte, wenn er seine Freude zeigte, also blieb er ganz ernst.
    Abel blickte zum Horizont. Vor dem Sternenhimmel über Sevilla zeichnete sich die schlanke Silhouette der Giralda ab. Der süße Duft von Orangenblüten und Jasmin lag in der Luft. Es war angenehm mild, verglichen mit dem Regen und der Kälte der vergangenen Wochen. In dieser Nacht, da ihm Julitas Abwesenheit schmerzlich bewusst wurde, entdeckte er die bestürzende Schönheit Sevillas.
    »In Ordnung«, murmelte Abel erneut. »Ihr könnt auf mich zählen. Was muss ich tun?«
    Daraufhin erzählte ihm Monsieur Verdoux die ganze Geschichte mit dem Schlussstein, wie er in das Haus der de Haros gelangt war und dass er vermutlich die entscheidende Spur war, der sie zu den Spielregeln führen würde.
    »In den letzten Jahren gingen die Mönche von San Juan de Acre davon aus, dass sich der Kapitulationsvertrag in der Neuen Welt befinden könnte. Dort nämlich ist Don Manuel López de Haro, der ihn aufbewahren sollte, gestorben, ohne noch einmal nach Spanien zurückzukommen. Ich hielt das schon immer für eine Schnapsidee!« Er schnaubte verächtlich. »Aber was habe ich schon zu sagen? Ich bin nur ein französischer Schulmeister!«
    Er lachte spöttisch.
    »Nun sind sie nach jahrelanger Suche in fernen Ländern zur ursprünglichen Theorie zurückgekehrt, von der wir nie hätten abkommen dürfen. Und wir haben eine hervorragende Gelegenheit, uns in der Kathedrale umzusehen, ohne Verdacht zu erregen!«
    Er erzählte Abel, die Ordensmitglieder hätten in Erfahrung gebracht, dass das Domkapitel nach Abschluss der Karwoche mit der Erneuerung des Fußbodens im Chor weitermachen wolle.
    »Wir werden uns an den Arbeiten beteiligen«, fuhr er fort. »Wir hatten Zugang zu den Originalplänen und wissen

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