Der Turm der Könige
Einzige, was in seiner Brust Platz fand, war ein unsäglicher Schmerz, als ihm bewusst wurde, dass Julita nie mehr zurückkehren würde. Alle seine Pläne, sein Leben, seine Träume lagen in diesem Sarg, in dieser Kirche begraben. Ohne sie hatte sein Leben keinen Sinn mehr. Wohin sollte er nun mit all den Küssen, die auf seinen Lippen brannten, mit den Zärtlichkeiten, mit denen er ihre Haut liebkost hatte, mit den verliebten Sätzen, mit denen er sie nachts in den Schlaf gewiegt hatte? Er hatte sich so viel Leidenschaft aufgespart, um sie in der Hochzeitsnacht damit zu überraschen. Jetzt blieb ihm nur noch, in der Welt der Lebenden auszuharren und abzuwarten, bis der Tod ihn wieder mit Julita vereinte.
Als er in die Druckerei kam, waren erneut die beiden Stadtbüttel da, die am Samstagmorgen gekommen waren, um Doña Julias Anzeige wegen Abels Verschwinden aufzunehmen. Sie sprachen mit Cristóbal und Cristo. Bei ihren Untersuchungen waren sie zu dem Schluss gekommen, dass die Person, die Cristóbals Schwiegereltern und seine Tochter ermordet hatte, ein Bekannter gewesen sein musste. Die Tür war nicht aufgebrochen worden, und es fehlte nichts im Haus, so dass die Möglichkeit eines Raubüberfalls auszuschließen war. Außerdem waren das Kaffeeservice und die vier Tassen, die auf dem Wohnzimmertisch standen, ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich eine weitere Person im Haus befunden hatte, die das Vertrauen der Ermordeten besaß.
»Wir haben in der Schmutzwäsche ein blutbeflecktes Nachthemd Ihrer Tochter gefunden. Wissen Sie etwas darüber?«, fragte einer der beiden Beamten Cristóbal.
»Nein«, log dieser.
»Nach dem Zustand der Leichen zu schließen geht der Arzt davon aus, dass sie am Samstagnachmittag starben. Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?«
»Er war hier«, erklärte Doña Julia rasch. »Er hat das Zimmer im Souterrain bezogen.«
»Und Ihr Sohn?«
Abel sah Cristo misstrauisch an.
»Ich war den ganzen Nachmittag im Punta del Diamante und habe Karten gespielt«, antwortete dieser gelassen.
»Wem könnte etwas daran liegen, so liebenswerte Menschen zu töten?«, fragte Doña Julia die beiden Beamten, als sie sich an der Tür verabschiedeten.
»Den alten Leuten wurde einfach die Kehle durchgeschnitten, aber an dem Mädchen hat der Mörder seine ganze Wut ausgelassen. Ihr wurde elfmal mit einem spitzen Gegenstand in die Brust gestochen. Es muss jemand gewesen sein, der eine große Wut auf sie hatte.«
Abels Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Er drehte sich um und ging rasch die Treppe hinauf. Er konnte nicht länger zuhören.
***
ABEL STIEG AUF DEN DACHBODEN und setzte sich aufs Dach, um am Himmel Ausschau nach Julita zu halten, wie er es damals vor vielen Jahren, als sein Vater gestorben war, mit Großvater Nepomuceno getan hatte. Doch das Teleskop, in seiner Erinnerung ein magisches Objekt, durch das man die geliebten Menschen, die nicht mehr unter den Lebenden weilten, zum Greifen nahe vor sich sehen konnte, lieferte ihm nur ein tristes, trübes Bild. So sehr er die Linse auch putzte, es wurde nicht besser. Irgendwann wurde ihm klar, dass es nicht an der Linse lag, sondern an den Tränen in seinen Augen.
Julia und Mamita Lula standen hilflos vor so viel Trauer und beschlossen, Monsieur Verdoux zu rufen. Der französische Lehrer war längst ein Teil der Familie geworden. Seine Besuche waren nicht auf den Unterricht beschränkt. Tatsächlich unterrichtete er Abel de Montenegro schon länger nicht mehr, aber seine Anwesenheit im Haus trug entscheidend zur seelischen Ausgeglichenheit seiner Bewohner bei. Er ging im Haus ein und aus, ohne seine Besuche anzukündigen. Weder Julia noch Mamita Lula fühlten sich verpflichtet, anwesend zu sein, wenn er kam. Normalerweise kam er durch die Tür der Druckerei, streckte den Kopf in die Werkstatt, um die Arbeiter zu begrüßen, und ging dann in den Patio. Dort setzte er sich hin, um ein Buch zu lesen oder um an dem Palisandertischchen eine Partie Schach gegen sich selbst zu spielen.
Als er eintraf, berichteten ihm die beiden Frauen, dass Abel nicht am Abendessen teilgenommen habe, sondern auf den Dachboden gestiegen sei, wo er nun seit über vier Stunden sitze. Monsieur Verdoux atmete tief durch. Dann stieg er die Stufen hinauf, strich die Seidenweste glatt und rief zur Dachluke hinaus: »Schämst du dich nicht,
garçon
? Muss ich wirklich wie ein Affe da hinaufklettern, um mit dir zu reden? Dafür gibt es keine Entschuldigung!«
Leise ächzend stieg
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