Der Turm der Könige
gewesen. Fürs Erste gab er sich damit zufrieden. Niemals hätte er den Gedanken zugelassen, dass die Liebe seines Lebens einfach nur Mitleid für ihn empfinden könnte.
Alle waren überrascht, als Julia mit der Nachricht aus dem Salon zurückkam, dass der Druckermeister ins Haus einziehen werde. Sie ging über die verdutzten Mienen von Mamita Lula und Abel hinweg und wich ihren fragenden Blicken aus. Um das Schweigen zu überspielen, gab sie Anweisung, das Frühstück zu servieren.
»Mamita, deck den Tisch für fünf. Heute essen wir alle zusammen. Sie bleiben doch, Monsieur Verdoux?«
»Keine Frage. Dieses Essen
en famille
lasse ich mir nicht entgehen. Ich werde gleich mal in die Küche entschwinden, um zu sehen, was dort so vor sich geht«, sagte er mit starkem Akzent, ein feinsinniges Lächeln auf den Lippen, bevor er rasch davoneilte.
Der Satz des Franzosen nahm der Situation die Anspannung, denn Mamita Lula rannte ihm protestierend durch den Flur hinterher. Es passte ihr ganz und gar nicht, dass er seine Nase in ihr Reich steckte. In ihren Augen gab es nur zwei Gründe für einen Mann, eine Küche zu betreten: Entweder er war der Ofenbauer, der den Herd setzte, oder aber der Kohlenmann, der seine Lieferung brachte.
Der Haushälterin war es herzlich egal, dass Monsieur Verdoux sich damit brüstete, eines der Gründungsmitglieder des »Garten des Lukullus« zu sein, einer Vereinigung von Männern, die gutes Essen zu schätzen wussten. Seine Anwesenheit in der Küche bedeutete eine Gefahr für die Ordnung im Gewürzschrank und für das Seelenheil der Küchenmädchen. Der Franzose experimentierte gern mit Rezepten. Er mischte süß mit salzig, kochte Milch mit Nelken auf, bis sie überschäumte, und rührte in dampfenden Töpfen allerlei zusammen, das Mamita Lula anschließend angewidert auf die Straße kippte. Die beiden gerieten sich immer wieder in die Haare, weil Monsieur Verdoux die Ansicht vertrat, dass die gute Zubereitung eines Gerichts nicht vom Geschlecht des Kochs abhing, sondern von seinem Einfühlungsvermögen, und dass für die Zubereitung eines guten Reistopfs mit Kaninchen dieselbe Poesie vonnöten sei wie beim Dichten eines Sonetts.
»Wir hier in Spanien sind lausige Köche. Schließlich haben wir das Olivenöl mit derselben Freude des Landes verwiesen, wie wir es mit den Arabern getan haben«, urteilte er. »Mit Schweineschmalz zu kochen ist, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, eine Schweinerei!«
»Aber was reden Sie denn da? Sie sind doch gar kein Spanier«, entgegnete Mamita Lula verärgert, ohne zu bedenken, dass sie selbst in Afrika geboren war.
Als sie schließlich am Tisch saßen, bestrich Monsieur Verdoux kleine Brotstückchen mit Butter, machte Scherze, über die nur er lachte, und kaute jeden Bissen hundertmal, ohne Cristóbal Zapata dabei aus den Augen zu lassen. Der Druckermeister schwieg während der gesamten Mahlzeit, den Blick auf die blumenbestickte Tischdecke gerichtet, während er versuchte, mit der Fingerkuppe einen unsichtbaren Brotkrümel aufzupicken. An den Gesprächen der anderen nahm er keinen Anteil. Doch als Abel irgendetwas Belangloses über den Wolkenbruch der vergangenen Nacht und eventuelle Wasserschäden auf dem Dachboden sagte, war Cristóbal plötzlich wieder ganz da. Er schaute auf und warf dem Jungen einen Blick zu, in dem aller Hass der Welt lag. Es war nur ein kurzer Augenblick, doch das genügte. Niemand hatte etwas davon mitbekommen – niemand, außer Monsieur Verdoux.
***
NACH DEM ESSEN LEGTE ABEL sich hin und verschlief den Rest des Tages und die ganze Nacht. Er war völlig erschöpft. Im ersten Tageslicht des Ostersonntags erwachte er. Er vertrieb die Müdigkeit mit einem Kaffee, aß eine Scheibe geröstetes Brot und zog sich dann an, um zu Julita zu gehen und ihr alles zu erzählen. In den Straßen wimmelte es von Gläubigen, die das höchste Fest der Christenheit feierten, um daran zu erinnern, dass Jesus nicht am Kreuz gestorben war, wie seine Henker glaubten, sondern als menschgewordener Gott nach drei Tagen wiederauferstanden war. Durch sein Opfer stand denen, die an ihn glaubten, der Himmel offen.
Abel wusste, wie sehr Julita dieses Fest mochte, weil mit ihm die Zeit der Trauer, der Buße und des Fastens vorüber war und man den Neuanfang des Lebens feierte. Mit dem Ostersonntag schien auch der Frühling zu beginnen, und wie zur Bestätigung war es ein strahlend heller, sonniger Tag.
Gegen elf Uhr morgens stand Abel in der Calle
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