Der Turm der Könige
Julia presste die Hand auf den Mund, um nicht wieder in Schluchzen auszubrechen. Dann stellte sie das leblose Tier in die Druckerei, damit es sie durch ihren Arbeitstag begleite. Aber den Arbeitern war es unheimlich, den ganzen Tag von einem toten Hund beobachtet zu werden. Sie gingen mit gekreuzten Fingern daran vorbei, ohne ihn auch nur anzusehen. Daraufhin beschloss Julia, Turca in den Patio zu stellen. Doch nun bekamen es die Dienstmädchen mit der Angst zu tun.
»Er wedelt mit dem Schwanz«, behauptete Mamita Lula, die von abergläubischem Wesen war. »Sieh doch nur, sieh … Das macht er nur, wenn du nicht hinschaust.«
Irgendwann war Julia die ganze Aufregung leid, und sie brachte den Hund in die Kathedrale, in die Kapelle der de Haros. Sie stellte ihn auf den Altar zwischen das goldene Kruzifix und das Psalmenbuch, weil sie fand, dass er es verdient hatte, als Familienmitglied die ewige Ruhe zu finden. Schließlich hatte dieser Hund ihr mehr Liebe, Anerkennung und Freude geschenkt als viele ihrer Cousins oder Onkel und Tanten, die nicht einmal mit ihr sprachen.
Turcas Tod war der letzte Tropfen, der das Glas ihrer Schwermut zum Überlaufen brachte. Sie dachte an all die Menschen, die nun nicht mehr da waren: ihr verwirrter Vater, ihre oberflächliche Mutter, León, die Liebe ihres Lebens … Sie versank in tiefer Traurigkeit, bis ihr Mund trocken wurde und ihre Augen in Tränen schwammen. Dann eilte sie auf ihr Zimmer, suchte eins von Leóns Hemden aus dem Schrank und sog gierig den Duft nach Seife ein, der nichts mehr mit dem Geruch des Mannes gemeinsam hatte, in den sie sich damals verliebt hatte.
Weinend presste sie ihr Gesicht gegen den rauen Stoff, bis die Tränen schließlich mit einem letzten Schluchzen versiegten. Dann stand sie auf, strich das Hemd wieder glatt und hängte es in den Kleiderschrank zurück. Sie wusch sich das Gesicht, richtete den Knoten und ging hocherhobenen Kopfes zum Abendessen, ohne sich von Mamita Lulas kritischen Blicken beirren zu lassen.
»Es ist gut, sich zu kasteien, um für seine Sünden zu büßen. Aber wenn man die Strafe genießt, ist das pures Laster und des Bösen«, sagte die Haushälterin, die einen sechsten Sinn für die Empfindungen anderer hatte.
»Sei still! Du bist ja verrückt.«
Aber da Julia nicht zum Leiden berufen war, hatte sie bald genug davon und überlegte, dass Nächstenliebe der beste Weg sein könnte, ihr eigenes Schicksal zu vergessen. Also ging sie zu den Nonnen von Santa Isabel und erklärte ihnen, dass sie ihnen und den »armen Unglücklichen« helfen wolle.
»Das ist eine wunderbare Idee, Señora Montenegro«, sagte die Mutter Oberin und ergriff ihre Hände, um dann mit gedämpfter Stimme hinzuzusetzen: »Obwohl Sie sie nicht unglücklich nennen sollten. Wir nennen sie lieber ›Bedürftige‹.«
»Ich werde sie nennen, wie Sie es wünschen, Mutter Oberin, solange ich mich nachmittags mit ihnen beschäftigen kann. Von drei bis um fünf, um genau zu sein«, setzte sie hinzu. »Da habe ich nämlich nichts zu tun.«
Sie bekam eine Liste mit karitativen Aufgaben, die während der Woche zu tun waren. Montags gab sie in der Armenküche das Essen aus. Bald war sie die Freiwillige, die am schnellsten arbeitete. Sie band sich die Schürze um, krempelte die Ärmel hoch und begann damit, die Schüsseln auszuteilen, ohne sich von ihrer Arbeit ablenken zu lassen.
»Du müsstest das sehen«, sagte sie zu Mamita Lula, wenn sie erschöpft nach Hause kam. »Ich war beim Essenverteilen schneller als alle anderen. Nicht wie diese langsamen Nonnen, die jeder Mücke hinterherschauen, die Armen anlächeln und sich erkundigen, wie es ihnen geht, ob ihnen das Essen heute schmeckt und ob sie gut geschlafen haben …«
Es nützte nichts, dass die Haushälterin ihr erklärte, dass diese Menschen nicht nur körperlicher Speisung bedurften, sondern auch nach seelischer Nahrung lechzten. Wenn für Julia ein Teller zu füllen war, dann füllte sie diesen Teller, ohne lange zu zaudern.
Dienstags veranstaltete das Kloster eine Nähstunde für die Frauen, bei der Julia zwischen Hohlsäumen und Steppstich den neuesten Klatsch aus der Stadt erfuhr. Mittwochs wurden die Prostituierten in körperlicher Hygiene unterwiesen, eine Veranstaltung, die sehr aufschlussreich für sie war, denn sie begriff, dass die Arbeit dieser Frauen nichts mit jener Lust zu tun hatte, die sie mit León erlebt hatte. Donnerstags entlauste sie Kinder, und freitags betete sie mit den Nonnen
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