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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Sierpes. Er klopfte zweimal an die Haustür, doch niemand öffnete ihm. Das war ungewöhnlich, daher lugte er durch das Fenster, das zur Straße hinausging. Da sich die Sonne in den Scheiben spiegelte, beschattete er die Augen mit den Händen, doch im Haus war keinerlei Regung zu erkennen. Er trat auf den Gehsteig zurück, stellte sich unter den Orangenbaum, der ihm nachts als Leiter diente, und warf ein Steinchen.
    »Julita!«, rief er. »Julita!«
    Nichts. Er wartete eine ganze Weile vor der Tür, doch je mehr Zeit verging, desto sicherer war er, dass hier etwas nicht stimmte. Sonst war immer jemand zu Hause. Als die Glocken der Kathedrale zwölf schlugen, fasste er sich ein Herz und kletterte über den Baum zum Zimmerfenster seiner Liebsten. Er zögerte kurz, weil es verschlossen war und er die Scheibe einschlagen musste, um hineinzugelangen, doch dann sagte er sich, dass die Situation nach einem beherzten Eingreifen verlangte. Erklären konnte er alles später. Lieber ein schlechtes Gewissen als diese schreckliche Ungewissheit. Er schlug die Vorhänge beiseite, so dass die Sonne ins Zimmer fiel. Sein überlanger Schatten zeichnete sich auf dem Fußboden ab. Irgendetwas beunruhigte ihn. Gleich darauf wurde ihm bewusst, dass es die ungewohnte Stille im Haus war.
    »Julita?«
    Er lief durch die Zimmer im ersten Stock, und als er dort niemanden antraf, ging er langsam die Treppe hinunter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Im Patio wandte er sich nach links, dorthin, wo sich der Wohnraum befand. Noch viele Jahre später würde er sich an diesen Moment erinnern, den Moment, in dem seine Seele zu Eis erstarrte. Julita und ihre Großeltern lagen tot auf dem Boden, bleich und von einer großen Blutlache umgeben. Auf dem Tischchen standen die Teekanne, ein Tablett mit Gebäck und vier Tassen samt Untertellern. Abel spürte, wie sich sein Magen umdrehte. Er konnte den Brechreiz nicht unterdrücken, und so beugte er sich vor und übergab sich auf den Teppich. Dann riss er die Haustür auf, taumelte auf die Straße und rang nach Luft, weil ihm der metallische Geruch des Blutes in der Nase hing.
    »Holt die Stadtbüttel!«, rief er noch, bevor er auf die Knie fiel und zu schluchzen begann, das Gesicht in den Händen verborgen.
    ***
    OBWOHL DER PLATZ IN DER GRABKAPELLE der Familie de Haro langsam knapp wurde, bot Julia Cristóbal an, seine Tochter dort zu bestatten.
    »Ich bin schließlich ihre Patentante«, sagte sie.
    Doch der Druckermeister lehnte entschieden ab. Er führte an, dass er nicht noch mehr Probleme machen wolle, doch der wahre Grund für seine Weigerung war, dass er nicht wollte, dass sein eigen Fleisch und Blut Seite an Seite mit León de Montenegro ruhte. Allerdings bestand Doña Julia darauf, dass die Totenwache im Patio ihres Hauses stattfand. Sie holten den Setztisch aus der Druckerei und stellten Julitas Sarg darauf. Sie hatten ihr das Ordenskleid des Klosters Santa Isabel angezogen, so dass die Verletzungen nicht zu sehen waren, die man ihr zugefügt hatte und die die Ursache für ihren Tod gewesen waren. Ihr Gesicht war entspannt, ein leises Lächeln lag darauf. Hätte man es nicht besser gewusst, man hätte meinen können, sie schliefe nur.
    »Man hat sie umgebracht!«, schrie Abel, der völlig die Fassung verloren hatte.
    Ihr Leichnam wurde auf einem Wagen weggebracht, den die Nonnen von Santa Isabel geschickt hatten. Julita sollte in ihrem Kloster bestattet werden, in Anerkennung der vielen Jahre, die sie dem Orden treue Dienste geleistet hatte. Monsieur Verdoux, Abel, Cristóbal und sein Sohn Cristo trugen den Sarg auf ihren Schultern zu der Grabnische in einer Seitenkapelle der Kirche. Schweigend und ohne Tränen schritten sie vorwärts, nur die gemurmelten Gebete und das Schluchzen der Nonnen waren zu hören.
    Als das Sterbeamt längst vorüber war und alle gegangen waren, stand Abel immer noch da. Er klammerte sich ans Gitter der Kapelle, ganz in Schwarz, und kämpfte gegen die Übelkeit an, die ihm der süßliche Geruch der Blumen verursachte. Dort stand er, bis eine der Ordensschwestern kam, um ihm zu sagen, dass es langsam dunkel wurde und sie nun die Pforten schließen würden.
    »Gehen Sie nach Hause, junger Mann … Sie muss nun nicht mehr leiden.«
    »Nein. Jetzt bin ich es, der leidet«, antwortete Abel verzweifelt.
    Langsam ging er unter dem orangeroten Himmel dahin, der sich allmählich tiefblau färbte. Man konnte schon die Sterne sehen. Es war kalt, aber er merkte es nicht. Das

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