Der Turm der Könige
Draufgängers. Nach dem Tod seiner Großeltern und seiner Schwester hatte er das Haus ganz für sich allein. Sein Vater hatte sich geweigert, zurückzukehren, und wohnte lieber weiterhin in der Druckerei. Also konnte Cristo tun und lassen, was er wollte. Er lachte gern, war nie schlecht gelaunt und erzählte derbe Witze. Er besaß eine schier endlose Liste von Freunden, die ihn zum Trinken einluden und über seine Einfälle lachten. In der Druckerei war es genauso. Eine Zeitlang gab er in einem fort Lieder zum Besten wie ein Gitano. Angefeuert vom Klatschen und Lachen der übrigen Angestellten, schloss er schmerzerfüllt die Augen und zog leidend die Schultern hoch.
»Du machst dich lächerlich, Junge«, sagte Doña Julia, als sie hörte, wie er einen weiteren Flamenco-Gesang durch die Werkstatt schmetterte. »Diese Kunst hat man im Blut, wenn man Gitano ist, und das bist du nicht.«
Aber das war ihm herzlich egal.
Am Tresen des Punta del Diamante stand Cristo seinem Vater in nichts nach. Er setzte sich zu den Frauen und eroberte ihre Herzen mit Schmeicheleien und schönen Worten. Seinen Trinkkumpanen erklärte er, dass es keine bessere Methode gebe, die Gunst eines Mädchens zu gewinnen, als ihr das Gefühl zu geben, einzigartig zu sein.
Er fasste die hinkende Juana mit der linken Hand um die Hüfte, streckte die rechte Hand aus und begann zu schmettern:
Zwei Herzen hab ich!
Kein Leid kann mir geschehen.
Zwei Herzen hab ich:
Das eine, auf dass es mir schlage,
Das zweite, auf dass es dir sage:
Ich schlage nur für dich.
»Olé!«, erwiderte sie neckisch. »Komm nachher zu mir nach Hause, ich muss dir was zeigen.«
Manchmal verschwand Cristo ein, zwei Tage, ohne dass jemand wusste, wo er steckte. Sein Vater dachte, dass Doña Julia sein Fehlen nicht bemerke, doch sie zog es vor, keine Diskussion vom Zaun zu brechen.
***
LA NIÑA CANDELA WAR MITTLERWEILE zu voller Schönheit erblüht. Sie hatte einen herrlich weiblichen Körper bekommen und musste nicht länger das Mieder zusammenschnüren, um den Busen zu betonen, hatte die Natur ihr doch die Formen einer spanischen Gitarre verliehen. Der Blick aus ihren dunklen Augen ging tief. Sie hatte volle rote Lippen und endlos lange Beine. Das Haar floss ihr in Wellen über die bloßen Schultern, die nach Zimt dufteten. Sie schmückte sich nach wie vor mit Armreifen, Ohrgehängen, Fingerringen und Halsketten, so dass ein betörendes Klirren ihr Kommen ankündigte und stets verriet, wenn sie in der Nähe war.
Und sie hatte immer noch vor, Schauspielerin zu werden. Sie meldete sich an der Schauspielschule an, die Pablo de Olavide gegründet hatte, um arme Kinder zu fördern – sehr zum Unwillen jener, die im Theater eine Verunglimpfung Gottes sahen. Da sie von den paar Münzen, die sie im Punta de Diamante bekam, nicht leben konnte, verdiente sich La Niña Candela neben ihren Auftritten noch etwas in der Tabakfabrik dazu, wo sie als Zigarrenrollerin arbeitete.
Für Cristo war sie von Anfang an eine Herausforderung, als wollte man zwei Frauen in einer erobern. Er beobachtete, wie sie sich auf der Bühne bewegte, mit ihren dunklen Händen Kreise in der Luft beschrieb, mit lautem Geklapper ihrer Absätze den Rock schürzte und den Gästen mit ihrem bezaubernden Lächeln den Kopf verdrehte.
Cristo war hin und weg, wenn er sie in der stickigen, von Zigarrenrauch geschwängerten Atmosphäre zu den Klängen der Gitarre tanzen sah. Er verfolgte die Vorstellung des Mädchens wie ein Wolf die Schafsherde und kam zu dem Schluss, dass ihr koketter Augenaufschlag und die rhythmischen Bewegungen ihrer üppigen Kurven sicherlich nur ein schwacher Abglanz dessen waren, was sie im Bett zu bieten hatte. In seiner Phantasie war sie eine feurige Wildkatze, die nur darauf wartete, ihn mit ihren Beinen zu umschlingen. Doch sobald Candela die Bühne verließ, verwandelte sie sich. Kurz angebunden wehrte sie das Werben der Männer mit einer feinsinnigen Mischung aus Spott und Herablassung ab, die Cristos Leidenschaft noch weiter anfachte.
Dennoch fand La Niña Candela Gefallen an diesem Jungen mit dem Gebaren eines Don Juan. Manchmal hob sie bei einer seiner Bemerkungen belustigt den Mundwinkel und nahm seine Komplimente hin, ohne ihn mit bösen Blicken zu bedenken. Seine Schmeicheleien besaßen einen gewissen Charme, wohingegen sie die Bemerkungen der Übrigen als herabwürdigend empfand. Schließlich fasste sie Vertrauen zu ihm und kam manchmal zur Druckerei, wenn die Angestellten
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