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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Feierabend hatten. Mamita Lulas tadelnder Blick schien ihr nicht das Geringste auszumachen.
    »Ein junges Mädchen sollte nicht hinter den Männern her sein wie eine läufige Hündin«, schimpfte die Haushälterin.
    »Lass sie doch«, sagte Julia, während sie Candelas stets unbedeckte Schultern betrachtete, denn das Mädchen trug im Sommer wie im Winter eine weit ausgeschnittene, strahlend weiße Bluse. »Und mach ihr eine Tasse heiße Schokolade. Ihr ist sicher kalt.«
    Zu jener Zeit war die Tabakfabrik die bedeutendste Manufaktur Sevillas, ja sogar ganz Spaniens. Es gab keinen europäischen Staatschef, der es nicht schätzte, seine Entscheidungen in den Rauch einer guten Zigarre gehüllt zu treffen. Es ging das Gerücht, die Zigarren aus Sevilla seien wohlschmeckender als alle anderen auf diesem Planeten, weil die Arbeiterinnen den Tabak auf ihren bloßen Schenkeln rollten. Manchmal sah man Cristo mit einer Zigarre im Mund durch die Stadt spazieren und mit höchstem Genuss daran ziehen, denn für ihn war es nicht der Rauch getrockneter Tabakblätter, der seine Lungen füllte, sondern die Essenz von Candelas nackten, sonnengebräunten Schenkeln.
    Wenn das Mädchen mit seinem klirrenden Schmuck und der wehenden Löwenmähne zur Druckerei kam, brachte es die gelehrsame Ordnung in Aufruhr, die von den langweiligen Intellektuellen und den romantischen Dichtern stundenlang gepflegt wurde. Sie verstummten allesamt und warfen dem Mädchen unauffällige Blicke zu. So ungezähmt, wie sie aussah, war es ihnen unmöglich, sie einzuordnen.
    »Also … nun ja …«, sagte schließlich einer, um das unbehagliche Schweigen zu brechen.
    »Genau«, antwortete ein anderer.
    Doch allmählich gewann Candela ihre Sympathie, indem sie ihnen, während sie auf Cristo wartete, Tabakpulver anbot, das in weiten Teilen Europas durch die Nase geschnupft wurde. Sie hatte das Pulver in einem Metalldöschen bei sich, das sie in ihrem Strumpfband trug. In Sevilla war es unter dem Namen »Kakerlak« bekannt. Es war von rötlicher Farbe und scharfem Geschmack. Nachdem alle geschnupft und sich geschnäuzt hatten, entspann sich eine Diskussion darüber, ob das spanische Tabakpulver besser oder schlechter sei als der französische Rapé.
    »Was aus Frankreich kommt, muss einfach besser sein«, behauptete einer und blickte um Zustimmung heischend zu Monsieur Verdoux.
    »Das ist doch ausgemachter Unsinn«, widersprach ein anderer wild gestikulierend. »Rapé ist viel grober und dunkler als unser heimischer Tabak.«
    »Aber Sie werden mir gewiss zustimmen, dass der französische Name wesentlich feiner klingt. Zwischen ›Kakerlak‹ und ›Rapé‹ liegt ein himmelweiter Unterschied.«
    »Da gebe ich Ihnen recht. Was man durch die Nase schnupft, sollte nicht den Namen eines Insekts tragen.«
    Und auf diese Weise eroberte La Niña Candela die Gäste der intellektuellen Zirkel in der Druckerei im Handumdrehen.
    Auch Doña Julia erlag ihrem Charme, wenngleich aus anderen Gründen. Sie mochte das Mädchen. Es erschien ihr wie ein ungebändigtes Ebenbild ihrer selbst. Eine freie Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nahm und nicht auf das Geld eines Mannes angewiesen war. Julia war der Überzeugung, dass eine Ehe nur auf reiner, wahrer Liebe basieren konnte, wenn keiner der Partner finanziell vom anderen abhängig war. Darüber hinaus fand sie, dass Candela einen guten Einfluss auf Cristo ausübte.
    Das Mädchen war die Einzige, die diesen sprunghaften Jungen zähmen konnte, der bislang noch keinerlei Verantwortungsgefühl bewiesen hatte. Sie fand, dass Candelas Anwesenheit mehr Vorteile als Nachteile brachte, und erlaubte ihr weiterhin, mit ihren klirrenden Armreifen, ihrem Schnupftabak und ihren sinnlichen Blicken ins Haus zu kommen. Allerdings nahm Julia sich vor, etwas an ihrem Auftreten und an ihrem Benehmen zu ändern, denn sie fand, dass einem wohlerzogenen Menschen alle Türen offenstanden.
    »Es wird dir das Leben erleichtern«, versicherte sie.
    Als Julia feststellte, dass das Mädchen aß, wann immer es Hunger verspürte, war sie entsetzt. Sie erklärte ihr, wie wichtig es für Körper und Geist sei, feste Regeln im Leben zu haben. Ihre erste Erziehungsmaßnahme bestand darin, dass sie Candela jeden Tag zum Mittag- und Abendessen kommen ließ. Sie brachte ihr bei, dass man die Serviette auf dem Schoß ausbreitete, und erklärte ihr den Unterschied zwischen flachen Tellern, tiefen Tellern und Desserttellern und dass man die Suppe nicht direkt aus

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