Der Turm der Könige
weltlichen Vergnügungen, nach denen Körper und Seele anderer junger Männer in seinem Alter lechzten.
Er trank nicht, gab kein Geld beim Karten- oder Würfelspiel aus, interessierte sich nicht für Hahnenkämpfe, sah nicht den Mädchen hinterher und traute sich erst recht nicht, mit ihnen anzubändeln. Julia ahnte, dass sich ihr Sohn für hehrere Dinge begeisterte. Er mochte Musik, Literatur und tiefgründige Gespräche, und er stieg immer noch gerne aufs Dach, um durch Großvater Nepomucenos Fernrohr den Himmel zu betrachten, auch wenn er sich nicht mehr so sicher war, am Firmament die geliebten Wesen entdecken zu können, die gestorben waren.
Neben seinen Schachpartien gegen Monsieur Verdoux verbrachte er auch viel Zeit damit, gegen sich selbst zu spielen. Wenn es um Schach ging, war er in der Lage, abwechselnd auf der einen und der anderen Seite des Bretts zu ziehen, ohne eine der beiden Parteien zu bevorzugen, so wie es vor vielen Jahren auch sein Vater gemacht hatte. Jeden Abend vor dem Schlafengehen verbrachte er einige Zeit damit, die Eindrücke des Tages festzuhalten, aus denen später das
Buch ohne Namen
entstehen sollte.
Außerdem teilte Abel Monsieur Verdoux’ erlesenen kulinarischen Geschmack und begleitete diesen einmal wöchentlich zum »Garten des Lukullus«, wo Männer, die noch nie einen Fuß in die Küche gesetzt hatten, über die beste Zubereitung von Sauce Tartare, Biskuit, kandierten Früchten oder Vanillecreme debattierten. Danach kam Abel mit knurrendem Magen nach Hause, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er ging geradewegs zur Köchin und machte dieser Vorhaltungen, weil sie nicht die Gewürze verwendete, die er ihr empfohlen hatte. Er beugte sich über die Töpfe, um Thymian ans Lamm zu tun, mehr Zimt an den Milchreis und Oregano an den Käse, bis aus der Küche Dünste drangen wie von einem persischen Basar, wie seine Mutter sagte.
»Halt dich vom Herd fern«, schimpfte Julia. »Du machst mir die Mädchen nervös, und außerdem wirst du uns irgendwann noch alle vergiften. Das ist kein Ort für einen Mann.«
»Was heißt das, das ist kein Ort für einen Mann?«, protestierte er. »Was denkst du, wer in den Klöstern kocht? Männer natürlich, und zwar besser als so manche Frau. Dieses Mädchen, das bei uns kocht, hat von nichts eine Ahnung. Sie bereitet das Essen ohne Liebe und ohne Feingefühl zu, einfach nur, damit wir satt werden, wie Hühner in einem Hühnerpferch. Aber Essen ist mehr als das.« Er vollführte eine zärtliche Handbewegung durch die Luft. »Es ist ein erhabener Genuss, ein Fest für die Sinne, das die Augen erfreut und dem Gaumen schmeichelt, das in die Nase steigt und Körper und Seele belebt«, schwärmte er, um dann hinzuzusetzen: »Seit wann wird eigentlich keine Butter mehr für die Frühstücksbrötchen geschlagen?«
Aus solchen Dingen schloss Julia, dass er unempfänglich für die Verlockungen des weiblichen Fleisches sei. Genau wie damals bei León bedachte sie nicht, dass Abel ein komplizierter Mann war, den man mit kleinen Details erobern musste, die anderen entgingen. Ein Mann, der sich nicht so schnell verliebte, doch den es umso stärker erwischte, wenn Amors Pfeil ihn schließlich doch traf.
»Ich bin verliebt, Mutter«, sagte er noch einmal. »Und ich möchte heiraten.«
»Wer ist sie?«, fragte Julia. »Kenne ich sie?«
»Sie heißt Rosario. Sie ist die Tochter des Marquis de Gelo, der regelmäßig an den literarischen Zirkeln teilnimmt«, fasste er knapp zusammen.
»Wann stellst du sie mir vor?«
»Sobald sie mir vorgestellt wird«, antwortete er und führte erneut den Löffel zum Mund, ohne auf die entgeisterten Gesichter der beiden Frauen zu achten.
***
ROSARIO WAR EINE AUSSERGEWÖHNLICHE FRAU. Vielleicht war sie Abel gerade deshalb aufgefallen. Sie verbrachte ihre Abende bei den von Pfarrer Manuel María de Arjona veranstalteten literarischen Zirkeln, an denen hauptsächlich Theologiestudenten teilnahmen. Sie war fast immer die einzige Frau. Dennoch hatte sie keine Hemmungen, den jungen Männern ihre literarischen Kreationen vorzutragen, den Text in der linken Hand, während sie mit der Rechten das Vorgetragene unterstrich.
Sie verfasste Theaterstücke, in denen es um gefallene Mädchen ging, die ihre verlorene Ehre wiederherstellten, indem sie als Männer verkleidet ihren treulosen Geliebten zum Duell herausforderten, aus dem die Dame natürlich stets als Siegerin hervorging. Sie schrieb leidenschaftliche Liebessonette, in
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