Der Turm der Könige
die Sache des Johanniterordens einsetzte, wenn er doch so sehr am Glauben zweifelte. Er kam zu dem Schluss, dass es seinem Lehrer vor allem um die Herausforderung ging, darum, sich mit seinem Gegenüber zu messen wie beim Schach, sich Wortgefechte zu liefern, eine Ansicht so lange zu vertreten, bis dem Widersacher die Argumente ausgingen. Gelang es ihm, schien er erstaunt, wie einfach es gewesen war, und sah sich nach einem neuen Gegner um, der ihm intellektuell gewachsen war, um abermals die Auseinandersetzung zu suchen.
Monsieur Verdoux’ Alter war das bestgehütete Geheimnis der Stadt. Abel schätzte, dass er um die vierzig war. Seine sorgfältig frisierten blonden Locken begannen allmählich zu ergrauen, und er kniff ein wenig die Augen zusammen, um weiter entfernte Dinge erkennen zu können. Das Geheimnisvolle, das ihn stets umwehte, und sein aristokratisches Auftreten weckten reihenweise das Interesse der Damen. Die Eltern der jungen Mädchen hielten ihn für eine gute Partie, denn man munkelte, dass er in Frankreich Ländereien sowie ein Schloss besitze. Außerdem fanden sie die Vorstellung ziemlich schick, dass ihre Enkel einen Namen tragen würden, bei dessen Aussprache die Leute den Mund spitzen mussten.
Er hatte noch immer den gertenschlanken Körper und die feingliedrigen Hände eines Zwanzigjährigen und duftete stets nach einem Parfüm, von dem er behauptete, es sei das gleiche, das bereits Katharina von Medici benutzt habe und das man nur in der Officina Profumo-Farmaceutica di Santa Maria Novella in Florenz bekommen könne. Er lebte bereits seit vielen Jahren in Sevilla, doch noch nie hatte ihn jemand über seine Familie oder seine Kindheit reden hören. Nur wenigen gewährte er die Ehre einer Einladung zu sich nach Hause.
Fest stand, dass Monsieur Verdoux ein begnadeter Schachspieler, Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph war. Und nachdem sie unter den Fliesen der Kathedrale das Pergament mit der gotischen Schrift entdeckt hatten, stellten sie fest, dass er auch eine Begabung dafür hatte, Geheimbotschaften zu entziffern.
Monsieur Verdoux trennte sich gar nicht mehr von dem Zettel und grübelte den ganzen Tag darüber nach, bis er die Abfolge der unverständlichen Buchstaben auswendig dahersagen konnte wie das ABC . Irgendwann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er fragte sich, wie ihm die Lösung bis jetzt hatte entgehen können. Sie saßen gerade im Salon, als er plötzlich aufsprang und in Richtung Druckwerkstatt davonrannte. Dort nahm er ein weißes Blatt Papier und schrieb das gesamte lateinische Alphabet auf.
»Was machen Sie da?«, fragte Abel.
»Einen Moment … Ich glaube, ich hab’s!«, rief er. »Es ist ganz einfach. Es ist wie bei einem Tresor. Sobald wir den Schlüssel haben, können wir ihn knacken.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Tresor? Schlüssel?«
Monsieur Verdoux erklärte ihm, dass der Mensch im Lauf der Geschichte gezwungen gewesen sei, Strategien zu entwickeln, um Botschaften vor den Augen der Feinde zu verbergen.
»Es ist die Kunst der Verschleierung«, sagte er mit geheimnisvoller Stimme. »Es gibt viele Arten, eine Botschaft zu chiffrieren. Und ich glaube, ich weiß, welche hier verwendet wurde.«
»Wirklich?«
»Natürlich«, sagte er stolz und zeigte ihm den Zettel, auf den er das ABC geschrieben hatte. »Pass auf.«
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
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Da Abel nicht zu begreifen schien, erklärte er weiter.
»Es ist ein einfaches Verfahren. Dabei wird jeder Buchstabe der Botschaft durch den vorhergehenden Buchstaben im Alphabet ersetzt. ›Guten Tag‹ würde folgendermaßen heißen: FTSDM SZF . Kannst du mir folgen?«
Abel entriss Monsieur Verdoux das Papier und begann etwas darauf zu kritzeln.
»Mal sehen«, murmelte er, während er die Buchstaben nach dem System ersetzte, das ihm der französische Lehrer genannt hatte. Staunend sah er, wie der unverständliche Satz vor seinen Augen Gestalt anzunehmen begann. »Habe ich es richtig gemacht?«, fragte er schließlich.
Monsieur Verdoux drehte das Blatt um. Darauf stand:
A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
JNCDW CDQ RHDSD OZQSHCZR
KODEX DER SIETE PARTIDAS
»Perfekt«, sagte der Franzose lächelnd.
13 Olé
Beim Schach können wir Folgendes lernen: Erstens Voraussicht … Zweitens Umsicht … Drittens Vorsicht … Und schließlich lernen wir beim Schach, uns nicht von ungünstigen
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