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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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denen die gesamte Götterwelt der griechischen und römischen Mythologie auftrat, ohne sich an den Angriffen der Puristen zu stören, die ein solches Durcheinander für reine Verirrung hielten.
    Kritik perlte an Rosario ab. Sie ertrug die argwöhnischen Blicke, die belustigten Mienen, die Gespräche, die verstummten, wenn sie sich näherte. Nur einmal sah man sie wütend werden: als jemand ihr nahelegte, ihre Werke unter einem männlichen Pseudonym zu verfassen, da es so wesentlich leichter sei, sie zu veröffentlichen.
    »Wenn die Menschen so dumm sind und einen Text nach dem Geschlecht dessen beurteilen, der ihn geschrieben hat, dann ziehe ich es vor, nicht gelesen zu werden«, erklärte sie mit eisiger Miene.
    Abel bemerkte Rosario an einem heißen Sommertag im Park des Grafen de Gandul. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und tauchte die Füße in den Brunnen, eine Provokation, die mit allgemeiner Missbilligung aufgenommen wurde.
    »Die Mädchen von heute kennen kein Schamgefühl mehr«, wurde getuschelt.
    Falls sie es hörte, kümmerte sie sich nicht darum. Ungerührt planschte sie mit den Füßen im Wasser und überflog noch einmal die Passage, die sie soeben mit kritischen Augen gelesen hatte. Von diesem Tag an konnte Abel es kaum erwarten, bis sie kam, und beobachtete sie verstohlen, wenn sie summend und ohne Begleitung eintraf. Er ertappte sich selbst bei einem Lächeln, wenn er sah, wie sie mit federnden Schritten näher kam, oder wenn sie eine Blume pflückte und sie sich hinters Ohr steckte. Mit solchen Kleinigkeiten hatte sie sich den Ruf erworben, ein wenig überspannt zu sein – und zwar zu Recht, wie Bruder Dámaso meinte, doch genau das war es, was Abel an dem Mädchen gefiel.
    Er entdeckte an ihr eine Eigenschaft, die er sehr bewunderte und die er nur bei ganz wenigen Menschen gefunden hatte: zu wissen, was sie wollte im Leben. Er selbst war sich nicht sicher, ob er diese Fähigkeit besaß. Ihm gefiel Rosarios Entschlossenheit. Schon immer hatten ihn Menschen beeindruckt, die in der Lage waren, für ihre Träume zu kämpfen, ohne sich von den Meinungen anderer beeinflussen zu lassen. Er war davon überzeugt, dass die meisten Menschen genau jene kritisierten, die das taten, wozu sie selbst nicht den Mut hatten.
    Nachdem er sich selbst eingestanden hatte, dass die literarischen Zirkel für ihn zu etwas Besonderem geworden waren, weil Rosario dort war, fiel die Anspannung von ihm ab. Er ließ es zu, dass er das Strahlen von Rosarios braunen Augen bewunderte, ihre dichten Wimpern, ihr weiches, goldblondes Haar, die Strähnen, die sich lösten und ihren Hals liebkosten, wenn sie aus voller Kehle lachte und dabei ihre weißen Zähne blitzen ließ. Sich einzugestehen, dass er sie liebte, war der nächste Schritt, und nachdem er das akzeptiert hatte, erschien ihm die Eroberung das geringere Problem. Er würde schon zum Ziel kommen, wenn er sich nur ein wenig Zeit ließe.
    Abel begann, Rosarios Leben zu erforschen. Er brachte in Erfahrung, wann sie Geburtstag hatte und auch ihre Eltern und Geschwister, denn auf eine Art und Weise, die ihm selbst unverständlich war, berührten seine Gefühle für Rosario auch den Rest ihrer Familie. Und er beschäftigte sich mit ihrem Horoskop, ausgehend von der Theorie Isaak Newtons, nach der die zwölf Tierkreiszeichen den Mythos von Jason und den Argonauten repräsentierten. Rosario war im Zeichen des Widders geboren, das für das Goldene Vlies stand, und so sah er sie, goldglänzend und von einem flammenspeienden Drachen bewacht. Ein Feuerzeichen, kämpferisch, kommunikativ und optimistisch.
    Abel fand heraus, dass sie in der Kirche El León getauft worden war, und ging dorthin, um das Taufbecken zu berühren, dessen Wasser einmal ihren Kopf benetzt hatte. Er folgte ihr bis nach Hause und drückte sich an den Straßenecken herum, um sie beobachten zu können. So brachte er in Erfahrung, dass sie gebrannte Mandeln und Baisers mochte, und schickte ihr von nun an täglich eine Schachtel mit beidem, ohne zu verraten, von wem sie kam. Er legte lediglich ein Kärtchen bei, auf dem in schön geschwungener Schrift stand:
     
    Ein ergebener Verehrer
     
    Da dies keinen Erfolg zu haben schien, ließ er ihr anonyme Liebesbriefe in gedruckten Lettern zukommen, denn trotz der früheren Bemühungen seiner Mutter verstand er sich nach wie vor wesentlich besser auf den Gebrauch des Setzkastens als auf Feder und Tintenfass. In diesen Botschaften gestand er ihr seine Verwirrung, seit er zum

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