Der Turm der Könige
Umständen entmutigen zu lassen, eine vorteilhafte Wendung abzuwarten und beharrlich nach Auswegen Ausschau zu halten.
BENJAMIN FRANKLIN
A bel de Montenegro war sehr schlank und viel größer als die meisten jungen Männer seines Alters. Er sah seinem Gegenüber nie direkt in die Augen, aus Angst, er könne diesen dadurch und durch seine Statur einschüchtern. Erst spät hatte sein Bart zu sprießen begonnen, doch es war nur ein dünner, unregelmäßiger Flaum, der sich auf einige Stellen an den Wangen beschränkte, während andere kahl blieben. Er hatte haselnussbraunes, weiches, lockiges Haar, und seine Augen waren eine Mischung aus dem Himmelblau seines Vaters und dem Kastanienbraun seiner Mutter. Bei direkter Sonneneinstrahlung leuchteten sie manchmal tiefgrün, und in der Abenddämmerung hatten sie die Farbe von Honig.
Abel war schrecklich schüchtern, versuchte dies jedoch zu überspielen, indem er sich unangenehmen Situationen aussetzte. Er zwang sich, bei den literarischen Zirkeln vorzulesen, auch ungefragt seine Meinung zu sagen und die wenigen Damen, die in die Druckerei kamen, mit ausgesuchter Höflichkeit zu begrüßen, auch wenn er dabei stets den Blick gesenkt hielt. Lachen sah man ihn nur selten, und wenn, dann stets mit geschlossenem Mund. So erwarb er sich den Ruf, arrogant und hochmütig zu sein.
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, hieß es. »Ganz die Mutter.«
Das Druckerhandwerk zu erlernen, fiel ihm leicht, und er übernahm zunehmend mehr Verantwortung. Seine ruhige Art half ihm beim Umgang mit den Lieferanten oder wenn es darum ging, die Angestellten in ihre Schranken zu weisen. Nur wenn er mit Cristóbal Zapata oder Cristo sprechen musste, verlor er seine scheinbare Sicherheit. Er sagte seiner Mutter nie etwas davon, aber wenn sie in der Nähe waren, spürte er stets eine gewisse Feindseligkeit.
Gleichzeitig vernachlässigte Abel weder seine Pflichten gegenüber dem Johanniterorden noch die täglichen Schachpartien mit Monsieur Verdoux. Doch seit es ihnen gelungen war, den Text auf dem Pergament zu entziffern, das sie in der Kathedrale gefunden hatten, hatten sich die Dinge verkompliziert. So vielversprechend es zunächst klang, gab der Buchtitel dennoch keinerlei Hinweise auf einen Schlüssel, ein Spiel oder die sagenumwobene Wette, die die beiden Herrscher Mitte des 13. Jahrhunderts geschlossen hatten. Der
Kodex der Siete Partidas
– der Kodex der Sieben Teile – war im 13. Jahrhundert von Alfons dem Weisen verfasst worden, um die Gesetze des Landes zu vereinheitlichen. Es waren jedoch nicht nur reine Gesetzbücher, sondern es ging darin auch um Philosophie, Moral und Religion. Vom Schachspiel keine Spur. Als Bruder Dámaso ihnen das erklärte, waren Monsieur Verdoux und Abel ziemlich enttäuscht.
»Aber es muss einen Zusammenhang mit dem Kapitulationsvertrag und der Wette geben!«, schimpfte der Franzose, und sein Akzent war stärker denn je. »
Kodex der Siete Partidas. Mon dieu
!«
»Das Buch heißt so, weil es in sieben Teile unterteilt ist«, erläuterte Bruder Dámaso.
»Gibt es nichts an dem Buch, was mit den Spielregeln zu tun haben könnte? Gibt es wirklich keine Spur?«, fragte Abel. »Ich finde es unlogisch, dass sich jemand die Mühe macht, ein verschlüsseltes Pergament zu vergraben, wenn dieses keine Botschaft enthält.«
Die beiden Männer fanden Abels Gedankengang nachvollziehbar und schwiegen.
»Mir fällt da etwas ein«, sagte der Prior plötzlich. »Es gibt nur sehr wenige Originalabschriften der
Siete Partidas
. Ich muss mich genauer informieren, aber ich glaube, eine davon befindet sich hier in Sevilla, in der Kolumbusbibliothek. Ich beschaffe die nötige Erlaubnis, und dann gehen wir hin und suchen es. Vielleicht finden wir in dem Buch eine neue Spur.«
***
»ICH BIN VERLIEBT, MUTTER«, verkündete Abel eines Samstags ganz unverhofft beim Mittagessen. Mamita Lula fiel vor Überraschung der Löffel mit Bohnen aus der Hand, den sie gerade zum Mund führen wollte.
Julia hatte jede Hoffnung aufgegeben, dass ihr Sohn irgendwann einmal Interesse am Heiraten zeigen könnte. Sie glaubte, die frommen Mönche vom Johanniterorden, mit denen er die Wochenenden in der Komturei verbrachte, hätten ihn mit Geschichten vom Weltuntergang beschwatzt und ihn von den Vorteilen der Keuschheit überzeugt. Sie kam zu dem Schluss, dass Abel diese Gleichgültigkeit gegenüber der Liebe von ihr geerbt haben musste, denn er zeigte keinerlei Interesse an jenen
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