Der Turm der Könige
Torre del Oro und der Mündung des Tagarete.
In diesen Monaten erzählte Abel seiner Verlobten viel über sein Leben, seine Ängste und seine Träume. Aber von Alfons dem Weisen und der Wette um die Giralda erzählte er nichts, weil er glaubte, dass es ihr Leben belasten oder sie gar in Gefahr bringen könne, wenn sie von diesen Dingen wusste. Und so erfuhr Rosario nichts davon, dass Bruder Dámaso Monate brauchte, um ihre Nachforschungen in der Bibliothek zu organisieren.
Er hatte sich vergewissert, dass sich tatsächlich ein Exemplar der
Siete Partidas
in der Bibliothek des Domkapitels befand, und erwirkte eine Sondergenehmigung, damit Abel, Monsieur Verdoux und er den Bibliotheksbestand einsehen konnten. Dieser Hort der Kultur, gegründet nach der Eroberung Sevillas, enthielt zahlreiche Werke aus der Privatsammlung Alfons des Weisen, die dieser der Bibliothek im Laufe der Jahre durch Schenkung übereignet hatte. Jahrhunderte später vermachte Fernando Kolumbus, der zweite Sohn des Entdeckers der Neuen Welt, Sevilla seine über fünfzehntausend Bände, und 1552 schließlich wurden die Bibliothek des Domkapitels und die Kolumbusbibliothek an einem Ort vereint.
Doch als die drei Männer das Gebäude betraten, waren sie enttäuscht. Dieser Hort des Wissens, über Jahrhunderte eine der bedeutendsten humanistischen Sammlungen der Renaissance, war völlig heruntergekommen. Es regnete hinein, und alles war mit Spinnweben überzogen. Die geistigen Werke der bedeutendsten Denker, ihre Traktate, Manuskripte, Karten, Partituren, Reiseberichte aus der Neuen Welt – alles lag ohne jede Ordnung entlang der Wände gestapelt.
Beim Anblick dieses heillosen Durcheinanders wurde ihnen klar, wie viel Mühe es sie kosten würde, den
Kodex der Siete Partidas
zu finden – falls sie ihn überhaupt finden würden. Die Feuchtigkeit hatte die Regale zerstört, und viele Bücher waren stockfleckig und taugten nicht einmal zum Feuermachen. Die Bände, die dem Verfall entgangen waren, hatte man größtenteils in einem Seitenschiff der Kathedrale gleich neben dem Orangenhof untergebracht, um sie zu retten. Schon seit Jahren trug sich das Domkapitel mit dem Gedanken, das Gebäude wieder instand zu setzen und so endlich die Bedingungen zu erfüllen, die Fernando Kolumbus in seinem Testament gestellt hatte.
Die Bücher sollten zunächst in einem Lager untergebracht werden. Fernando Kolumbus hatte die Summe benannt, die zum Kauf neuer Werke und der Instandhaltung der Bücher aufgewendet werden sollte, sowie das Salär, das jene erhalten sollten, die sich um die Bibliothek kümmerten. Er hatte auch erklärt, wie und wo die Bände untergebracht werden sollten: in einem großen, dem Zweck entsprechenden Raum in Kisten verpackt, aber so, dass man Titel und Verfasser lesen könne, nach Sachgebieten geordnet und vor den Unbilden der Zeit geschützt. Er hatte sogar bis ins Detail verfügt, dass alle sechs Jahre ein Theologe nach Neapel reisen und sich in sämtlichen Buchhandlungen umschauen sollte, um Neuheiten zu entdecken und zu erwerben. Genauso sollte er in Rom, Pisa und Florenz verfahren, bis er schließlich Venedig erreichte, wo er ein Schiff mieten sollte, das ihn nach Sevilla zurückbrachte.
Als Bruder Dámaso das alles erfuhr, frohlockte er. Er kam auf die Idee, dem Domkapitel vorzuschlagen, dass der Johanniterorden sich um den letzten Willen des Fernando Kolumbus kümmern könne. Da niemand, der noch ganz bei Trost war, sich bislang ein solches Titanenwerk hatte aufhalsen wollen, ging man ohne weiteres darauf ein. Zwei Wochen später wimmelte es in der Bibliothek von Männern, die das achtspitzige Kreuz auf der Brust trugen. Der gesamte »Krak des Chevaliers« leerte Raum um Raum, verscheuchte die Mäuse, die in den Pergamenten nisteten, erschlug die Kakerlaken, die das Papier zerfraßen, fegte abgebröckelten Putz weg, trocknete feuchte Flecken, las jedes Schriftstück von hinten bis vorne. Abel half ihnen dabei, doch die Wochen vergingen, ohne dass sie eine einzige erfreuliche Entdeckung machten. Und noch viel länger dauerte es, bis sie etwas fanden, das sie aus ihrem eintönigen Alltag riss.
***
DIE NÄCHSTEN MONATE WAR ABEL mit der bevorstehenden Hochzeit und der Suche nach dem
Kodex der Siete Partidas
beschäftigt, wobei er feststellte, dass er bei den Hochzeitsvorbereitungen nicht das Geringste mitzureden hatte. Seine zukünftige Schwiegermutter, seine Mutter und Mamita Lula schlossen ihn vollständig von ihren Gesprächen aus.
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