Der Turm der Könige
seine Eltern das Gleiche getan hatten. Alle hatten sie ihre Ehe in diesem Haus begonnen.
Die Jungvermählten merkten gar nicht, dass die Möbel mit Tüchern bedeckt waren, um sie vor Staub zu schützen, dass die Betten nicht bezogen waren und dass es noch nach frischer Farbe roch. Zu sehr waren sie damit beschäftigt, den Duft des anderen in sich aufzusaugen. Irgendwie fanden sie den Weg ins Schlafzimmer, wie seinerzeit Julia und León. Dort liebten sie sich, zuerst leidenschaftlich, dann ganz sanft, bis sie irgendwann erschöpft waren. Es war die Wirkung, die dieses Haus auf Verliebte ausübte. Jahre später wurden die Wände Zeuge einer weiteren Liebe. Einer flüchtigen, heimlichen, verzweifelten Liebe. Aber das war später.
14 Der Wert der Dame
Das Schachspiel erinnert uns daran, dass die Welt aus nahezu unendlich vielen Möglichkeiten besteht und man sich für eine entscheiden muss.
LUIS IGNACIO HELGUERA
M amita Lula war um die siebzig, als sie starb. Niemand kannte ihr Geburtsdatum und somit ihr genaues Alter, aber sie musste etwa vierzehn gewesen sein, als Julias Vater sie nach der Ankunft der Sklavenschiffe im Hafen gekauft hatte. Ihr Tod fiel mit der schlimmen Überschwemmung zusammen, die die auf schwimmenden Kähnen verankerte Brücke mit sich riss und Sevilla und Triana voneinander abschnitt.
Drei Tage lang öffnete der Himmel seine Schleusen. Am vierten begannen sich die dunklen Wolken aufzulösen, und die Sonne kam wieder zum Vorschein. Die Menschen erschienen an den Fenstern und blinzelten nach der tagelangen Dunkelheit mit zusammengekniffenen Augen nach draußen, wie Schnecken, die nach einem Regenguss die Fühler ausstreckten. Doch ihnen blieb nicht viel Zeit zum Lamentieren. Angehörige mussten gesucht und der Hausrat gerettet werden, den das Wasser nicht zerstört hatte, Türen abgeschmirgelt und überstrichen und neue Matratzen gekauft werden.
Der Bürgermeister ließ Hochwassermarken an den wichtigsten Gebäuden anbringen, damit die Nachwelt erfuhr, wie hoch der entfesselte Guadalquivir gestiegen war. Ortsfremde sollten nicht glauben, dass die Sevillaner übertrieben, wenn sie sagten: »Jawohl, mein Herr, bis hierhin hat das Wasser gestanden. Beinahe hätte die Strömung mich mitgerissen. Wie durch ein Wunder bin ich mit dem Leben davongekommen.«
Mamita Lula hatte sich an das jährliche Hochwasser gewöhnt und ließ sich davon nicht mehr beeindrucken. Deshalb vermisste sie niemand, als die Angestellten der Druckerei beim Einsetzen des Regens die schützenden Sandsäcke vor die Tür stapelten. In letzter Zeit hatte die alte Haushälterin die Lust daran verloren, auf den Markt zu gehen, um dort ein Schwätzchen zu halten, und sie schimpfte auch nicht mehr so heftig mit den Dienstmädchen wie früher. Stattdessen saß sie still da und hielt sich den Rücken. Sie sprang auch nicht mehr wie früher sofort auf, um nach dem Essen die Teller abzuräumen.
»Lass nur, Mamita, das Mädchen kann sie abtragen«, sagte Julia, wenn sie sah, wie sie sich mühsam hochwuchtete und sich dabei mit ihren riesigen Händen an der Tischkante festhielt.
Daraufhin setzte sich die Dienerin wieder, bis sie schließlich einnickte und ihr der Kopf auf die Brust sank. Julia schlug ihr vor, aufs Zimmer zu gehen, um ihre Siesta zu halten. Dort blieb sie bis zum späten Nachmittag, ohne dass es jemand wagte, sie zu stören.
An diesem Tag jedoch wurde es neun Uhr abends und die Straßen von Triana standen bereits unter Wasser, als Julia überrascht feststellte, dass Mamita Lula nicht in der Küche war. Sie fragte die Mädchen, Cristóbal Zapata, Rosario und ihren Sohn nach ihr, doch niemand hatte sie gesehen. Also beschloss sie, in ihrem Zimmer nachzusehen. Für gewöhnlich betrat Julia das Reich der Haushälterin nicht. Sie fand, dass sie in diesen vier Wänden nichts zu suchen hatte und es nur rechtens war, wenn Mamita Lula nach so vielen Jahren unermüdlichen Wirkens einen Ort hatte, an dem sie ihr eigener Herr war.
Die Lampe in der Hand, stieg sie die Treppe hoch. Sie konnte hören, wie der Regen aufs Dach prasselte. Sie wich den Eimern aus, die dort standen, um das Wasser aufzufangen, das durch die Decken zu tropfen begann. Dann betrat sie den schmalen, dunklen Korridor, der zu Mamita Lulas Zimmer führte. Vor der Tür hob sie die Hand, um anzuklopfen, doch ihre Unruhe war stärker, und so drückte sie gleich die Türklinke herunter.
Als sie öffnete, nahm sie den Duft nach Orangenkuchen wahr, den
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