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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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für Schach begeisterte wie er. Sie konnten stundenlang an Leóns Palisandertischchen sitzen und spielen. Sie probierten Eröffnungen, Strategien und Angriffe aus, die sie sich aus den Büchern aneigneten, die der Lehrer in Frankreich bestellt hatte. Monsieur Verdoux hatte ihr beigebracht, dass Geduld nie verkehrt war, wenn es darum ging, den Gegner zu schlagen. Er betonte immer wieder, dass man für Schach eine gewisse Angriffslust brauche und einen stärkeren Siegeswillen als bei anderen Spielen. Wenn man sich ablenken ließ und in den Irrtum verfiel, Schach als schlichte Unterhaltung anzusehen, verlor es seinen kämpferischen Charakter.
    »Schach erinnert uns daran, dass die Welt eine nahezu unendliche Fülle an Möglichkeiten bietet«, sagte er zu Guiomar. »Und man muss den Mut und die Courage haben, sich für eine zu entscheiden. Wer Angst hat, Feindesland zu erobern, verdient nicht, es zu besitzen«, erklärte er ernst.
    Monsieur Verdoux musste inzwischen über sechzig sein. Die ehemals blonden Locken hatten nun die Farbe beschlagenen Silbers. Obwohl sein Haar mittlerweile nicht mehr an eine Löwenmähne erinnerte, trug er es weiter nach hinten gekämmt, mit Koteletten, die bis zum Unterkiefer reichten. Zum Frühstück in der Druckerei erschien er beladen mit Büchern, auf einen seiner eleganten Stöcke gestützt, die er nun aus Notwendigkeit und nicht mehr wie früher aus Eitelkeit benutzte. Da er nichts anderes aß als Serranoschinken und Crevetten, plagte ihn die Gicht. Sein rechter Fuß war geschwollen, und manchmal konnte er kaum gehen, ohne furchtbare Schmerzen zu haben.
    »Das ist die Krankheit der Könige«, sagte Rosario, als sie ihm einen Schemel hinstellte, damit er das Bein hochlegen konnte.
    Wenn alle anderen sich zur Mittagsruhe begaben, setzte Guiomar sich zu ihm, und die beiden unterhielten sich auf Französisch. Sie sprachen über Bücher und kannten ganze Passagen aus Voltaires Werken auswendig, auch wenn Monsieur Verdoux immer behauptete, die meisten Menschen seien nicht in der Lage, seine moralischen Prinzipien zu verstehen.
    Am Nachmittag machten sie bei schönem Wetter – und wenn sein Bein es zuließ – einen Spaziergang am Fluss. Bei diesen entspannten Gesprächen unter freiem Himmel begann sich in Guiomars Kopf eine Vorstellung von Monsieur Verdoux’ Leben zu bilden, denn er sprach nie über seine Vergangenheit. Wenn sie ihn fragte, ob er nicht gerne in seine französische Heimat zurückkehren würde, nun, da dort Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschten, antwortete er, dass ihn das Schicksal nach Sevilla geführt habe, da sei eben nichts zu machen. Hin und wieder ließ er eine Bemerkung über kriegerische Vorfahren fallen, über Adelstitel, die von treulosen Verwandten gestohlen wurden, und über Wappen mit vielen Löwen und Zinnen, was das Mädchen dazu veranlasste, ihn auf eine Stufe mit den sagenhaften Helden zu stellen, die in seinen Geschichten vorkamen.
    Eines Tages war Monsieur Verdoux nicht zum Essen vorbeigekommen, und ihre Eltern waren zu einem Treffen im Haus des Marquis de Gandul gegangen. So saß Guiomar mit ihrem Nachtisch allein am Springbrunnen im Patio und las in einem ihrer Romane. Sie war so in die Geschichte vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Cristo nach dem Mittagsschlaf die Kellertreppe heraufkam. Als er sie sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Das Sonnenlicht fiel senkrecht auf das offene, gelockte Haar des Mädchens und verlieh ihm einen kupferfarbenen Schimmer. Ihre Haut erinnerte an polierten Marmor, und ihre dichten Wimpern schienen die Seiten des Buches zu berühren, das sie vorsichtig auf den Knien balancierte.
    Er spürte ein heftiges Kribbeln im Bauch, wie damals, als er die Kleine ins Bett getragen hatte. Mittlerweile wirkte sie nicht mehr kindlich. Ihr Gesicht, der Hals, die Taille waren schmaler geworden, und er konnte sehen, wie die Nähte ihres Kleides auf Höhe der Achseln spannten, wo sich ihre Brust entwickelte. Er blickte sich um und sah niemanden.
    »He! Wie alt bist du jetzt?«, fragte er sie.
    Überrascht blickte sie hoch, ein Stück Melone in der Hand. Sie hatte ihn nicht kommen gehört und wunderte sich, dass er sie ansprach, denn normalerweise redete er nicht mit ihr.
    »Ich werde vierzehn.«
    »Was isst du da?«
    »Melone.«
    »Bekomme ich auch ein Stück?«
    Guiomar schwieg. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Cristo kam näher und setzte sich auf den Brunnenrand. Sie saßen einander gegenüber, und er

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