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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Wenn ihr es gefunden habt, reden wir weiter.«
    ***
    DIE JAHRE VERGINGEN, und immer deutlicher formte sich Guiomars zurückhaltender, aber eigenwilliger Charakter heraus, der sich bereits in Kindertagen angedeutet hatte. Da ihr Vater es abgelehnt hatte, sie zur Schule zu schicken, hatte Guiomar keine Erfahrung im Umgang mit Gleichaltrigen. In der Welt der Erwachsenen hingegen bewegte sie sich absolut sicher. Nach dem Frühstück ging sie morgens immer in die Druckerei.
    »Was soll ich heute machen?«, fragte sie ihren Vater gähnend, während sie sich die Augen rieb.
    Abel nahm einen Hocker, hieß sie sich setzen und holte eine riesige Kiste mit tintenverschmierten Metalltypen, Putzwolle und einen Behälter mit lauwarmem Bier.
    »Du sollst die ganzen Lettern wienern, einen nach dem andern, bis sie richtig glänzen … Und dann sortierst du sie in ihre Fächer. Alle As zusammen, dann die Bs, dann die Cs … bis zum Z. Das ist eine sehr wichtige Arbeit. Glaubst du, du kannst das?«, fragte er.
    »Natürlich«, antwortete sie gewissenhaft.
    Dann wusste Abel, dass sie den ganzen Vormittag beschäftigt war und seine Frau und er sich in Ruhe darum kümmern konnten, die Druckerei wieder in Gang zu bringen. Sie wollten das Geschäft um Enzyklopädien und die neuesten Schachhandbücher erweitern,
Die unbeugsame Rose
neu auflegen und den gelehrten Stimmen, die sich im Patio versammelten, in einer Zeitschrift Gehör verschaffen, die unter dem Titel
Sevillaner Bote für Literatur und Oeconomie
erscheinen sollte.
    An den Abenden, an denen die literarischen Zirkel stattfanden, setzte sich Guiomar mit ihrem Zeichenblock in eine abgelegene Ecke des Patios und lauschte den hochtrabenden Gesprächen der Männer, während sie mit Bleistift ihre Gesichter skizzierte. Anfangs versuchte sie, das, was sie sah, möglichst naturgetreu wiederzugeben. Doch mit der Zeit begann sie die Gesichtszüge ihrer Modelle zu überzeichnen, indem sie Falten vertiefte, Muttermale betonte, Glatzen vergrößerte und ihre Skizzen in den Rauch der Zigarren hüllte, die sie in den Händen hielten, während sie philosophierten.
    Abel, der zunächst sehr angetan schien, dass seine Tochter die künstlerischen Neigungen eines Velázquez oder Murillo zeigte, war empört, als er sah, in welche Richtung sich die Zeichnungen entwickelten. Er fand, dass diese Porträts ein Unding seien und man Guiomar davon abbringen müsse, weiterhin solche Fratzen in ihren Block zu kritzeln.
    »Unsere Gäste werden beleidigt sein, wenn sie sich als Hofzwerge verewigt sehen«, rief er aufgebracht.
    Aber Rosario fand Guiomars künstlerische Werke höchst interessant, so interessant, dass sie anfing, ihre Zeichnungen in der einen oder anderen Ausgabe der
Unbeugsamen Rose
zu veröffentlichen.
    Guiomar hatte keine Gelegenheit gehabt, Mamita Lula persönlich kennenzulernen, aber ihre Großmutter hatte so oft von ihr erzählt, dass sie glaubte, sie vor sich zu sehen: die Haut wie Schokolade, das Haar wie schwarzer Schaum, die wulstigen Lippen, die kräftigen Hände, ihr Duft nach frisch geschälten Orangen. Sie wusste von den Bemerkungen der Dienstmädchen, die behaupteten, der Geist der Haushälterin gehe im Haus um. Und sie selbst konnte ihre wohltuende Gegenwart wahrnehmen. Manchmal, wenn sie durch die Korridore schlafwandelte, begegnete sie ihr im Traum. Mamita Lula sagte ihr voraus, wenn das Wetter umschlug, warnte sie, dass etwas Schlimmes passieren werde, wenn sie nach dem Essen die Serviette nicht zweimal faltete, und stibitzte ihr heimlich Kleider aus dem Schrank, um ein Andenken an sie zu haben.
    Als sie irgendwann Monsieur Verdoux von ihrer Beziehung zu diesem Geist aus dem Jenseits erzählte, war der französische Lehrer hellauf entsetzt. An die Existenz nicht greifbarer Wesen wie Gott und die Heiligen zu glauben, sei das eine, sagte er ihr, zu behaupten, Mamita Lula wandere weiterhin seelenruhig durchs Haus, eine ganz andere Sache.
    »Habe ich dir denn gar nichts beigebracht? Man muss den Verstand gebrauchen,
chérie
. Wie kannst du an Geister glauben? Und was heißt das, sie nimmt Kleider aus dem Schrank?«, rief er aufgebracht. »Gespenster besitzen keine Hände, und ohne Hände können sie keine Dinge anfassen. Das weiß doch jeder.«
    Dennoch vergötterte Monsieur Verdoux das Mädchen. Zwischen beiden war eine tiefe Verbindung entstanden, die auf gegenseitiger Bewunderung und gemeinsamen Interessen beruhte. Guiomar war die einzige Person in diesem Haus, die sich genauso

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