Der Turm der Könige
Jüngste, der ein schwarzes, glänzendes Pferd ritt, sah zu ihr herüber. Dann sprang er ab, ging zu einem Korb mit Äpfeln, der am Höhleneingang stand, nahm einen und biss herzhaft hinein, ohne den Blick von Guiomar abzuwenden.
»Wer ist das?«, fragte er einen Mann, der gerade Feuer machte, und deutete mit dem Kinn zu ihr herüber.
»Die Tochter des Besitzers von
Las Jácaras
. Sie ist sein einziges Kind, also werden wir gutes Geld für sie bekommen«, antwortete der.
Der junge Mann ging auf Guiomar zu, den Apfel immer noch in der Hand, und setzte ein spöttisches Grinsen auf, dass die schneeweißen Zähne in seinem dunklen Gesicht blitzten. Als er vor ihr stand, fragte er sie nach ihrem Namen, doch sie gab keine Antwort. Sie reckte lediglich den Hals, hob das Kinn und drehte den Kopf zur Seite.
»Vielleicht bekommen wir auch gar nichts für dieses feine Fräulein«, sagte er laut, damit alle es hören konnten. »Sie ist sehr mager … Außerdem hat sie ihre Zunge verschluckt, glaube ich.«
Die Übrigen grölten vor Lachen.
»Ich habe Durst«, stieß sie wütend hervor.
»Hm … Sie kann doch sprechen.« Er trat näher, um sie aus zusammengekniffenen Augen zu betrachten. »Wie heißen Sie?«
»Ich habe Durst«, wiederholte sie.
Der Mann hielt ihr den angebissenen Apfel hin. Guiomar drehte erneut das Gesicht weg, und er lachte.
»Gebt ihr Wasser, ein bisschen Bier oder Wein … Was sie will«, rief er und verschwand dann in einer der Höhlen.
***
DEN RESTLICHEN TAG BEOBACHTETE Guiomar das Verhalten ihrer Entführer, ihre Bewegungen und wie sie miteinander umgingen. Sie kam zu dem Schluss, dass der junge Mann, der ihr den Apfel angeboten hatte und den sie den »Marquis« nannten, der Anführer der Bande war. Als es dunkel wurde, legten sie Blutwürste und Paprikawürste aufs Feuer. Bald roch es köstlich nach gegrilltem Fleisch.
Guiomar lief das Wasser im Mund zusammen. Sie hatte am Morgen nicht gefrühstückt, aus Angst, in der schwankenden Kutsche könne ihr übel werden. Sie hatte seit über vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Der junge Räuberhauptmann schien ihre Gedanken zu lesen und kam mit einem Teller gegrillter Paprikawürste, Brot und einem Krug Wein zu ihr. Er machte ihre Hände los und hielt ihr das Essen hin, doch bevor sie danach greifen konnte, zog er es wieder weg.
»Wie heißen Sie?«
Trotz ihres Hungers schwieg Guiomar beharrlich. Der Marquis setzte sich neben sie und begann, von dem Teller zu essen. Guiomar sah ihn von der Seite an.
»Denken Sie nicht, dass ich Ihre Sturheit nicht bewundere«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Es gefällt mir, weil es mich an mich selbst erinnert. Aber wissen Sie was, vornehmes Fräulein?« Er deutete mit einem Stück Brot auf sie. »Sie haben zwei Möglichkeiten: Entweder Sie nennen langsam und deutlich die fünf oder sechs Buchstaben ihres Namens und stillen ihren Hunger, oder sie bleiben stur und bekommen heute kein Abendessen. Damit Sie es wissen: Aufmüpfigkeit amüsiert mich sehr, und den Namen bekomme ich früher oder später sowieso heraus. Sie haben die Wahl.«
Es herrschte minutenlanges Schweigen.
»Sieben«, sagte sie schließlich.
»Was?«
»Mein Name. Er hat sieben Buchstaben: G-u-i-o-m-a-r«, buchstabierte sie. »Guiomar de Montenegro ist mein Name.«
Er sah sie an, und plötzlich kehrte die Erinnerung an die Spiele auf dem Landgut
Las Jácaras
zurück, die Zeiten als Messdiener, Guiomars Taufe. Guiomar. Als er diesen Namen als kleiner Junge in der Kirche Santa María de Gracia gehört hatte, war er ihm vorgekommen wie ein Gebet.
»Guiomar«, flüsterte er. Dann besann er sich, sprang auf und vollführte eine tiefe Verbeugung, ohne dass das Lächeln von seinen Lippen verschwand.
»Fräulein Guiomar, darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Ventura Marqués. Bei meinen Freunden bin ich als der ›Marquis der Straße‹ bekannt und bei meinen Feinden als ›Der grausame Bandit‹. Ich habe die Ehre, Sie in meinem bescheidenen Zuhause zu empfangen, das kühl ist im Frühling, wo die Vögel singen und das Bächlein rauscht …« Er breitete die Arme aus, um ihr seinen Besitz zu zeigen. »Alles, was Sie sehen, so weit Ihre entzückenden Augen reichen, gehört mir. Und das, was Sie sehen, wenn Sie sie schließen, auch«, setzte er mit einem schalkhaften Zwinkern hinzu.
Er reichte ihr den Teller mit dem Essen und den Weinkrug und ging in Richtung Haupthöhle davon, während er laut und in einem improvisierten Rhythmus
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