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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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die Ferne schaute, träumte sie mit offenen Augen. Sie sah die Landschaft mit den mattgrünen Olivenbäumen, der gelben Ackerrauke und den lila Distelblüten vorüberziehen. Im Winter hatte es reichlich geregnet, und die Vegetation war üppig und grün. Guiomar brannte darauf, endlich ans Ziel zu kommen und die Rosen im Garten des Hauses zu sehen, in dem sie geboren worden war. Sie seufzte zufrieden, dann fielen ihr langsam die Augen zu und sie schlief ein. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als sie von Schreien geweckt wurde.
    »Hoooh!«, hörte sie den Kutscher rufen.
    Guiomars Herz klopfte bis zum Hals. In letzter Zeit trieben Banditen auf dieser Strecke ihr Unwesen, die Reisende überfielen, um den Reichen ihr Geld wegzunehmen und es den Armen zu geben. Von manchen wurden sie wie Volkshelden behandelt. Als die Kutsche hielt, entstand eine beklemmende Stille. Guiomar umklammerte die Hand der Köchin, die neben ihr saß, und nahm beunruhigt den entsetzten Blick von Monsieur Verdoux wahr, der sich mit seinem feinen Seidentüchlein die Stirn abwischte.
    Plötzlich wurde der Wagenschlag aufgerissen, und ein Mann mit Stoppelbart, offenem weißen Hemd und einem roten Kopftuch zeigte ihnen ein riesiges Messer. Er forderte sie mit bestimmter Höflichkeit zum Aussteigen auf, wobei er den Damen half. Draußen stellten sie fest, dass der Räuber nicht allein war. Sechs Männer auf Pferden hatten ihre Pistolen auf sie gerichtet. Man befahl den Reisenden, sich in einer Reihe neben die Kutsche zu stellen, ganz ruhig zu bleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren, wenn sie nicht wollten, dass ihnen etwas Unangenehmes geschah.
    »Der Himmel erbarme sich unser!«, rief die Köchin und bekreuzigte sich.
    »Nun ja!«, bemerkte Monsieur Verdoux spöttisch, »nicht der Himmel, sondern diese Herrschaften müssen sich unserer erbarmen. Was wollen Sie von uns?«, fragte er so würdevoll, wie es die Situation erlaubte.
    Der Bandit antwortete nicht. Er lachte schallend und entblößte dabei eine Reihe löchriger Zähne. Dann ging er vor den Frauen auf und ab und musterte sie von Kopf bis Fuß, um den Wert des Schmucks und die Qualität der Kleider abzuschätzen. Schließlich deutete er mit dem Messer auf Guiomar.
    »Junge Dame, Sie kommen mit uns.«
    Die empörten Proteste des französischen Lehrers nützten ebenso wenig wie die Ohnmacht der Köchin und der lautstarke Widerstand des Mädchens. Der Bandit zog sie zu sich heran und hob sie auf die Kruppe seines Pferdes. Das Tier sprengte davon, und das Letzte, was Guiomar sah, bevor sie im Dickicht eines nahen Wäldchens verschwanden, war, wie Monsieur Verdoux den Räubern Steine hinterherwarf und sie in seiner Muttersprache beschimpfte. Er hatte immer gesagt, für eine gepflegte Beleidigung gebe es nichts Besseres als die Sprache der Madame de Pompadour.
    Sie ritten eine endlose Stunde lang. Während dieser Zeit richtete der Mann nicht ein einziges Mal das Wort an sie. Hin und wieder pfiff er vor sich hin, hörte aber bald wieder damit auf. Guiomar betrachtete niedergeschlagen die Landschaft, durch die sie vor einigen Minuten erst gekommen war. Gerade noch hatte sie unendlich friedlich auf sie gewirkt, doch nun war sie zu einer Kulisse der Angst geworden. Sie wusste nicht, wohin man sie brachte, bis sie in der Ferne die ockerfarbenen Umrisse einer Art Felsschlucht ausmachte. Es handelte sich um die Höhlen von La Batida, einem alten Steinbruch aus Zeiten der Römer, der die Ebene von Carmona dominierte und in dem Quadersteine für die großen Bauten der Umgebung geschlagen wurden.
    Es war nicht weit bis zum Landhaus
Las Jácaras
, aber ihre Eltern hatten sie nie hierhergelassen, weil sich dort angeblich zwielichtige Gestalten trafen, um sich zu duellieren.
    Sie erreichten eine freie Fläche, wo man sie vom Pferd absteigen ließ. Guiomar wurde an Händen und Füßen mit einem Strick gefesselt und dann an einen riesigen Felsblock vor der größten Höhle gebunden. Sie wusste, dass die Banditen oft Geld von den Grundbesitzern forderten und dass es in Mode kam, junge Mädchen aus der Oberschicht zu entführen, um dann ein Lösegeld zu verlangen. Aber nicht in ihren schlimmsten Träumen hätte sie sich vorstellen können, dass ihr einmal so etwas passieren könnte.
    Sie hatte Angst und war durstig. Die Banditen warfen ihr lüsterne Blicke zu. Plötzlich hörte sie Pferdegetrappel und Männerstimmen, die sich lachend und lärmend den Höhlen näherten. Einer von ihnen, der

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