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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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einzigen schien Wasser zu fließen. Der Junge hielt den Mund unter den klaren Strahl und trank gierig. Erst nach einigen Momenten spürte er, dass das Brennen an der Lippe stärker wurde.
    »Seht euch dieses Bürschlein an!«, rief eine zerzauste Frau, die zu dem Dickwanst gehörte. »Hält sich direkt an den Schnaps!«
    Bald ließ das Brennen in Abels Mund nach. Wärme durchströmte seinen ganzen Körper, und ein leichtes Kribbeln betäubte seine Lippe und seine Seele. Da war kein Schmerz mehr, weder körperlich noch seelisch. Sein Kummer in der Schule und die Prügel seiner Altersgenossen erschienen ihm nicht länger von Bedeutung. Er fühlte sich nicht mehr gedemütigt, traurig, unglücklich und feige. Er musste lachen und sah, dass alle mit ihm lachten. Alles war Licht, Farbe, Musik …
    Das Letzte, woran er sich erinnerte, war, dass ihn die Frau mit dem wogenden Ausschnitt und dem wirren Haar, die mit dem rotnasigen Mann feierte, zum Tanzen in die Mitte des Platzes schleifte, während ringsum das »Hoch lebe der Botschafter!« zu vernehmen war.
    ***
    GEGEN DREI UHR NACHMITTAGS brachte ihn ein Kunde der Druckerei nach Hause. Er berichtete, dass er ihn unter einem Baum gefunden habe, wo er neben einem mageren schokoladenbraunen Hündchen mir weißen Pfoten und weißer Schnauze lag, das ihm übers Gesicht leckte.
    »Ich glaube, der gehört Ihnen«, sagte der Mann und überreichte ihn seinem Vater, während der Hund, freudig mit dem Schwanz wedelnd, vor der Tür wartete.
    Julia und Mamita Lula traf fast der Schlag, als sie die blauen Flecken auf Abels Gesicht sahen. Da der Junge nicht in der Lage war, ihre Fragen zu beantworten, zerbrachen sich die beiden den Kopf darüber, wie er in diesen Zustand gekommen sein könnte. Nach langem Rätseln gelangten sie zu dem Schluss, dass nur eine wüste Räuberbande dieses Unheil angerichtet haben konnte. Sie entkleideten den Jungen, badeten ihn, begutachteten die blauen Flecken und betupften die Wunden mit Alkohol, ohne auf das schmerzverzerrte Gesicht des Jungen zu achten.
    »Was ist passiert? Wer hat dir das angetan?«, schrie ihn seine Mutter an. »Wo sind deine Bücher? Sag doch etwas, um Himmels willen!«
    »Ich will nicht zum Nachmittagsunterricht gehen. Die anderen Jungen sagen, dass ich der Sohn eines Piraten sei«, antwortete Abel mit halbgeschlossenen Augen und schnapsgeschwängertem Atem.
    »Das hat uns noch gefehlt! Noch ein Säufer in der Familie«, jammerte Julia in Gedenken an die Neigung ihrer Mutter zum Kirschlikör.
    »Wie sagte Pater Zacarías?«, bemerkte Mamita Lula und deklamierte mit erhobenem Zeigefinger: »›Man muss die allgemeine Sittenlosigkeit bedauern, denn diese freizügigen Feste und Lustbarkeiten, welche die Nacht zum Tage machen, führen ohne jeden Zweifel zum moralischen Verfall der Aristokratie.‹«
    »Was redest du denn da? Schweig und halt den Mund! Du weißt ja gar nicht, was das bedeutet«, fuhr Julia sie empört an.
    »Natürlich weiß ich, was das bedeutet … Ich bin doch nicht blöd«, antwortete Mamita Lula eingeschnappt. »Es bedeutet, dass wir in einer Stadt von Taugenichtsen leben.«
    Sie kochten Abel einen Tee, zogen ihm ein frisches Nachthemd an und steckten ihn ins Bett. Niemand bekam mit, dass sich der magere Hund, der Abel während seines Abenteuers auf der Straße beschützt hatte, ins Haus geschlichen hatte und unter das Bett des Jungen gekrochen war. Dort blieb er ganz still liegen und lauschte aufmerksam den hin und her eilenden Schritten der Menschen.
    ***
    LEÓN WARTETE GEDULDIG AB, bis die Sonne untergegangen war. Schließlich hatten sich alle zu Bett begeben und die Lichter gelöscht. In dieser Nacht hatte er einen wichtigen Auftrag: Seine Mission verlangte wieder seinen Einsatz. Der Besuch des marokkanischen Botschafters und dessen Audienz beim König hatten Leóns schlimmste Befürchtungen geweckt. War der Botschafter gekommen, um die Giralda für sein Volk zu beanspruchen? Es war sehr gut möglich. Die Mönche von San Juan de Acre hatten ihn in dieser Nacht zu einer Zusammenkunft von höchster Wichtigkeit gerufen. Wieder einmal hatte die Heimlichkeit Einzug in sein Leben gehalten. Er lag neben seiner Frau und spitzte die Ohren, um an ihrem gleichmäßigen Atem zu hören, dass sie eingeschlafen war. Dann stand er langsam auf, verließ das Zimmer und schlich sich zu Abel. Er wollte noch einmal nach seinem Sohn sehen, bevor er ging.
    »Asad?«, murmelte Abel, als er sah, wie sich die Tür öffnete, und er die

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