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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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Umrisse seines Vaters zu erkennen glaubte.
    »Ich bin da.«
    »Ich habe Angst.«
    León setzte sich auf die Bettkante und umarmte ihn fest.
    »Das brauchst du nicht«, sagte er. »Du bist ein Krieger. Du besiegst furchterregende Heere auf deinem Pferd, wenn wir Schach spielen.«
    »Es ist nur ein Spiel«, sagte der Junge traurig. »Im wahren Leben bin ich nicht mutig. In der Schule bin ich nur ein einfacher Bauer. Sie beleidigen uns … Mama, dich und mich, und ich unternehme nichts, um unsere Ehre zu verteidigen. Die Jungs sind stärker als ich.«
    León hasste es, seinen Sohn so niedergeschlagen zu sehen. Er nahm die Kette mit dem goldenen Kreuz ab, das der Großmeister des Malteserordens ihm gegeben hatte, bevor er ihn nach Sevilla entsandte.
    »Lange, lange Zeit hat dieses Kreuz mir geholfen und mich beschützt. Ich glaube, jetzt hast du es nötiger als ich«, sagte er zu Abel, während er es seinem Sohn um den Hals legte. »Weißt du, was Philidor sagt?«
    »Philidor? Der
Die Kunst, im Schachspiel ein Meister zu werden
geschrieben hat?«
    »Genau der. Nun, er, der so vieles weiß, sagt, dass die Bauern die Seele des Schachspiels sind.« Abel wirkte nicht sehr überzeugt. »Steh auf! Wir gehen aus.« León zog seinem Sohn die Bettdecke weg.
    »Wohin?«
    »Zieh dich rasch an. Und sei leise – wenn deine Mutter etwas mitbekommt, bringt sie uns um.«
    Die Schuhe in der Hand, schlichen sie bei gelöschtem Licht die Treppe hinunter. Es war Abel verboten, nach Sonnenuntergang auf die Straße zu gehen, und so hatte er das aufregende Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, obwohl sein Vater bei ihm war.
    Bei Nacht auszugehen, war gefährlich. Der Stadtrat hatte eine Verordnung erlassen, nach der die Bewohner der Stadt nachts Lichter in die Fenster ihrer Häuser zu stellen hatten, damit die Straßen nicht so dunkel waren. Doch die Sevillaner scheuten die Ausgaben und hielten sich nicht daran. Sie hatten empfindliche Einbußen hinnehmen müssen, seit die Behörde für den Westindienhandel nicht mehr in der Stadt ansässig war. Seit dem unglückseligen Tag, da man beschlossen hatte, die sogenannte ›Casa de la Contratación de Indias‹ nach Cádiz zu verlegen, war die Warenbörse nur mehr eine leere Lagerhalle von riesigen Ausmaßen. Der nahe gelegene Handelshof ›Cruz de los Juramentos‹, wo die Händler in den Zeiten des Wohlstands ihre Verträge ausgehandelt hatten, war das Symbol einer ruhmreichen Vergangenheit, die nicht wiederkehren würde.
    Es gab keine Reeder mehr in Sevilla, und die Westindienfahrer ließen kein Geld mehr in den Tavernen. Der Hafen war verlassen, und an den Kais stank es nach Schmutz, Pferdemist und verdorbenem Fisch. Hier ankerten keine prächtigen Galeonen mehr, keine wendigen Karacken und zierlichen Karavellen, deren Segel sich auf dem Meer blähten und das rote Kreuz zeigten, damit man sie nicht mit muslimischen Schiffen verwechselte – stolze, seetüchtige Schiffe wie jene, auf denen Kolumbus den Atlantik überquert hatte. Die Schiffe, die nun im Hafen vor sich hin dümpelten, waren klapprige Holzskelette, die sich müde zur Seite neigten, als ob sie ein Nickerchen hielten.
    Der Hafen wirkte wie ein abgehalftertes Stundenhotel, wo Dirnen, die in den Bordellen nicht mehr gelitten wurden, weil sie alt oder zahnlos waren, gegen ein paar Münzen ihre welken Reize feilboten. Die umliegenden Straßen, in denen man früher Kapitäne, Kalfaterer, Lastenträger und Händler angetroffen hatte, waren nun fast vollständig in der Hand von lichtscheuem Gesindel, und nur selten traf man unter all den Säufern einen echten Seemann an. Manchmal trug der Wind eine salzige Meeresbrise den Fluss hinauf und erinnerte die Sevillaner daran, dass sie den einträglichen Handel mit Westindien genau deshalb verloren hatten, weil sie keinen Zugang zur See besaßen. Als wäre das noch nicht Unglück genug für die Stadt, herrschte Dürre auf dem Land, gefolgt von einer Schädlingsplage und der Geflügelpest. Die größten Schwarzseher behaupteten, vor langer Zeit habe das Volk der Ägypter Ähnliches durchgemacht, bevor die Zehn Plagen über das Land gekommen seien.
    Es herrschte zu großer Mangel, um Licht zu verschwenden, auch wenn das bedeutete, dass allerlei Banditen im Schutz der Nacht ungestört ihr Unwesen treiben konnten. Die Sevillaner fanden, dass es klüger war, nachts einfach nicht nach draußen zu gehen. Ab neun Uhr abends waren die Straßen verwaist, und nur einige Mutige trauten sich, nach einem Fest

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