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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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weg, stellten sie wieder auf. Dann brachten sie die Figuren wieder in die Ausgangsposition und begannen erneut zu diskutieren. Irgendwann schien die Partie zu stocken. Abel trat zu ihnen. Er stellte sich neben das Brett und sah sich die Position der Figuren genau an.
    »Ich habe die Gesichter schon gefunden«, sagte er.
    »Dann wirst du bestimmt ein glücklicher Mensch«, antwortete León.
    Der Botschafter sagte etwas auf Arabisch und lächelte den Jungen an.
    »Der Botschafter fragt dich, welche Figur du ziehen würdest«, übersetzte sein Vater und erklärte: »Weiß ist am Zug.«
    Weiß befand sich in einer unvorteilhaften Position, die schwarze Armee rückte unerbittlich vor. Abel analysierte rasch die Lage und kaute dabei auf dem Plätzchen herum, das nur noch eine klebrige Masse war. Dann streckte er die Hand aus und deutete mit seinem kleinen Zeigefinger auf eine der elfenbeinernen Figuren.

    »Ist das ein Elefant?«, fragte er verwundert.
    »Ja. Vor langer Zeit hieß das Schachspiel
Tschaturanga
, und nicht alle Figuren sahen damals so aus, wie wir sie heute kennen«, gab sein Vater zur Antwort. »Unser heutiger Läufer, der an einen Bischof erinnert, war früher ein Elefant. Deshalb heißt er auf Spanisch
alfil
, was auf Persisch
Elefant
bedeutet. Unter diesem Namen kam er in die arabische Welt und von dort zu uns.«
    »Dieser Elefant hier ist also der Läufer?«
    »Ja.«
    Abel packte ihn entschlossen mit der sauberen Hand. Sein Vater hatte ihm erklärt, dass man gegen Ende des Mittelalters damit begonnen hatte, hohe Summen beim Schach zu setzen. Damals wurde es notwendig, allgemeingültige Regeln festzulegen, bevor sich die Leute wegen eines Missverständnisses zwischen den Spielern prügelten. Eine davon lautete: »Berührt – geführt«. Der Junge wusste, dass man sich des Zugs, den man ausführen wollte, sehr sicher sein musste, bevor man die Figur anfasste, denn einmal berührt, durfte sie nicht mehr zurückgestellt werden. Abel zögerte nicht und brachte den weißen Elefanten entschlossen in eine exponierte Stellung, die den Gegner zwang, seinen Angriff aufzugeben, um den eigenen König zu retten.
    »Läufer nach g5. Schach!«, erklärte der Junge.

    Das marokkanische Gefolge wartete erschrocken die Reaktion des Botschafters ab. Sidi Ahmet-el-Gazel betrachtete mit ernster Miene den Zug. Dann lachte er laut auf und strich dem Jungen über den Kopf.
    »Tja, wären unsere Brüder zu Zeiten der Kreuzzüge nicht solche sorglosen Träumer gewesen und hätten dem Mamelukensultan Baibars die Stirn geboten so wie dieser Junge, statt blind auf die Botschaft einer Brieftaube zu vertrauen, wäre der Krak des Chevaliers noch in unserem Besitz«, sagte der vornehm aussehende Mann, bevor er einen Zug aus der Wasserpfeife nahm.
    »Vergessen Sie nicht, Monsieur Verdoux, dies ist nur eine Schachpartie, die jemand mit einem echten Kampf gleichzusetzen versuchte … Das außer Acht zu lassen, kann einen tatsächlichen Konflikt heraufbeschwören, den Vertrag Alfons des Weisen zunichte machen und …«
    »Ohne Zweifel, León, ohne Zweifel«, winkte der Franzose ab, um seiner Bemerkung die Bedeutung zu nehmen. Dann wechselte er das Thema und deutete mit dem Kinn auf Abels immer noch geschwollene Lippe, während er theatralisch den Rauch ausstieß. »Was ist denn mit dem Gesicht des Jungen passiert?«, fragte er.
    »Es gab Probleme in der Schule«, antwortete León. Dann übersetzte er den letzten Teil der Unterhaltung ins Arabische.
    Als der Junge sah, wie sein Vater und der marokkanische Botschafter ihn anschauten, wusste er, dass sie über ihn und die Ursachen für sein zerschundenes Gesicht sprachen. Er schämte sich zutiefst bei dem Gedanken, dass ihn jetzt alle für einen Weichling hielten, einen Feigling, der nicht in der Lage war, sich zu wehren. Er senkte den Kopf und schwieg. Sidi Ahmet-el-Gazel erhob sich von seinen seidenen Kissen. Sein Gefolge stürzte beflissen herbei, um ihm behilflich zu sein, Tische und Stühle beiseitezurücken und seinen Umhang zurechtzuzupfen, während er auf Abel zuging. Er strich zärtlich über den Kopf des Jungen und schenkte ihm ein nachsichtiges Lächeln, bevor er, von Weihrauch und Myrrhe umweht, im hinteren Teil des Patio de las Muñecas verschwand.
    León hatte keine Zeit, angesichts dieser Geste des Botschafters Rührung zu empfinden, denn seine Ordensbrüder überschütteten ihn mit einem Schwall von Fragen. So fasste er kurz das Gespräch zusammen, das er auf Arabisch mit

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