Der Turm der Könige
nach Hause zu gehen, ohne dass ein Diener mit einer brennenden Fackel voranging. Die einzig beleuchteten Orte waren die Heiligenbilder an den Kirchenmauern, denn hier kamen die Bruderschaften für die Kosten der Laternen auf.
Doch dieser Abend war anders. Die Straßen waren voller Menschen, die auf dem Weg von oder zu dem großen Festbankett mit Musik und Tanz waren, das zu Ehren des marokkanischen Botschafters im königlichen Alcázar stattfand. Abel bestaunte mit offenem Mund den vornehmen Adel, der seinen Reichtum zur Schau stellte. Die Herren trugen rotsamtene Wämser, Kniehosen, weiße Strümpfe und Schuhe mit silbernen Schnallen, die Damen goldbesetzte Kleider, Spitzenmantillen und Fächer, die sie ebenso flink bewegten wie ihre spitzen Zungen.
Vater und Sohn erreichten die Puerta del León, das Löwentor, das in den Alcázar führte. Es wurde so genannt wegen des Fliesenmosaiks eines Löwen über dem Torbogen, der in seiner Pranke ein Kreuz hielt. Abel gefiel es, dass das Tor den Namen seines Vaters trug.
»Mein Name ist León de Montenegro«, sagte sein Vater zu dem Mann, der den Eingang bewachte.
»Der gnädige Herr werden erwartet.« Der Portier verbeugte sich und trat dann zur Seite, um sie einzulassen.
»Wir sind eingeladen?«, wunderte sich der Junge.
»Nicht nur das«, flüsterte León und zwinkerte ihm zu, während sie durch den Patio de la Montería gingen. »Wir sind Ehrengäste.« Er deutete auf die Mauern. »Sieh dir das genau an. Als die Muslime noch in Sevilla lebten, befand sich hier der sogenannte
Mexuar
. Hier nahmen der Sultan und seine Wesire die Bittgesuche der Untertanen entgegen.«
Überall im Innenhof und in den Gärten waren Lichter aufgestellt worden – es mussten Tausende sein. Dadurch war es taghell. Im Botschaftersaal spielte ein dreißigköpfiges Orchester; der Klang der Musik war in allen Räumen gut zu hören. Das Festbankett fand im Mudéjar-Palast statt, aber in sämtlichen Sälen standen lange Tafeln mit Speisen aus aller Herren Länder, um die Gäste zufriedenzustellen, welchen Gott auch immer sie anbeten mochten. Es gab Lamm in Kapernsauce, Brasse mit Zitrone, Käse aus Flandern, Rebhuhn mit und ohne Sauce, mit Äpfeln gefüllten Hasen, Datteln aus Tunis, vierzig verschiedene Süßspeisen …
Abel war beeindruckt. Er umklammerte die Hand seines Vaters und versteckte sich ein wenig hinter ihm. Sie bogen nach links zum Patio de las Muñecas, und dort entdeckte der Junge die prächtige Kleidung und den Turban des marokkanischen Botschafters. Dieser ruhte auf Kissen, flankiert von zwei Schwarzen mit glänzender Haut, die ihm mit leuchtend blau gefärbten Straußenfedern Luft zufächelten und Insekten verscheuchten. Auf dem Tisch vor ihm standen eine Wasserpfeife und ein Schachbrett. Zu seiner Rechten saß ein schlanker, vornehm aussehender junger Mann, dessen Haar sorgfältig in Wellen gelegt war, und zur Linken ein weiterer Mann im Ordensgewand, der lächelnd aufstand, als er sie kommen sah.
»Da bist du ja endlich!« Er umarmte León und warf einen verstohlenen Blick auf das Kind.
»Bruder Dámaso … Entschuldigt die Verspätung. Es gab Schwierigkeiten. Heute war kein einfacher Tag«, antwortete León. »Ich möchte Euch meinen Sohn Abel vorstellen. Ab heute wird er immer dabei sein.«
»Dein Sohn …« Dámaso seufzte. »Wie doch die Zeit vergeht! Setzen wir uns.« Der Prior wies auf die weichen Kissen. »Monsieur Verdoux und ich haben uns bislang auf Französisch mit dem edlen Sidi Ahmet-el-Gazel unterhalten. Aber jetzt, wo du da bist, kannst du Arabisch mit ihm sprechen, damit er sich wohler fühlt.«
Der Botschafter sah das Kind neugierig an und reichte ihm ein süßes Mandelplätzchen, das Abel aus Höflichkeit annahm.
»Hör zu«, sagte sein Vater zu ihm. »Ich muss dringend mit diesen Männern sprechen. Solange kannst du dir die Zeit damit vertreiben, etwas zu suchen. Dieser Hof heißt Patio de las Muñecas, also Puppenhof, weil sich in den Bögen kleine Gesichter verbergen. Wer sie entdeckt, hat angeblich Glück im Leben. Magst du sie suchen?«
»Ja«, sagte Abel, während das Plätzchen in seiner Hand langsam schmolz.
»Wunderbar!«
Der Junge schlenderte durch den Patio und nahm jede Fliese, jede Stuckverzierung in Augenschein, während er zuhörte, wie sich sein Vater in einer ihm unverständlichen Sprache mit dem marokkanischen Botschafter unterhielt. Lange saßen die vier Männer da, bewegten zuweilen eine der Figuren auf dem Brett, nahmen sie
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