Der Turm der Könige
Druckerei erinnerte, wobei er vor lauter Anstrengung die Zunge zwischen die Zähne klemmte. Julia war entsetzt. Sie ereiferte sich, dass die Druckwerkstatt gewiss nicht der richtige Ort sei, um ein Kind auf die ersten Schritte im Leben vorzubereiten.
»Er muss nicht nur von Hand schreiben lernen – und zwar mit der rechten Hand!«, sagte sie und wies mit dem Finger auf seine linke Hand, die immer noch die Feder umklammert hielt. »Er muss sich auch eine schöne Handschrift aneignen, ohne dass die Feder nach jedem Wort wie ein erwürgter Vogel in einer Wanne aus Tinte aussieht. Er ist immer nur mit Mamita Lula zusammen, oder mit Julita – ein liebes Ding, aber sie ist nur ein kleines Mädchen, von ihr wird er nichts lernen. Mein Gott, er ist neun Jahre alt! Ich glaube, ich habe noch nie ein einsameres und gelangweilteres Kind gesehen als unseren Sohn. So kann es nicht weitergehen«, beschloss Julia.
Am nächsten Tag meldeten sie Abel in der Salvator-Schule an, die dem Haus am nächsten lag. Nur wenige Eltern konnten die vier Reales Schulgeld zahlen, die sie monatlich kostete, und noch weniger konnten die Hilfe ihrer Kinder zu Hause entbehren.
Abel musste sich an den neuen Tagesablauf gewöhnen. Um sieben Uhr morgens ging er in die Schule und blieb dort bis elf. Nach dem Mittagessen ging er erneut hin und kam nicht vor halb sieben nach Hause. In der Schule lernte er den Katechismus, Zählen und Rechnen, Dreisatz und Brüche. Er lernte Schönschrift und las Bücher, die zur Erziehung von Knaben geeignet waren, wie den
Historischen Leitfaden der Religion
von Piton und den
Historischen Katechismus
von Fleury, die, weil sie aus dem Französischen übersetzt waren, für vornehmer angesehen wurden als die heimischen Machwerke.
Es fiel ihm schwer, sich an den Schulalltag zu gewöhnen. Das frühe Aufstehen und das Kölnischwasser, mit dem Mamita Lula sein widerspenstiges Haar bändigte, verursachten ihm Übelkeit. Die steinernen Korridore der Schule erschienen ihm eisig und abweisend. Er, der sich ein Leben lang frei bewegt hatte und nach Gutdünken durch die Welt der Erwachsenen gestreift war, musste sich zusammennehmen und lernen, sich der manchmal unverständlichen Disziplin der Lehrer unterzuordnen. Sein Vater hatte recht gehabt, als er voraussagte, dass die Schule ihm nicht guttun werde.
Schon bald war er bei seinen Schulkameraden als Sonderling verschrien. Zum Teil hatten sie mitbekommen, wie die Erwachsenen über ihn tuschelten und über seine eigenwillige Familie herzogen. Aber auch sein Verhalten half ihm nicht eben dabei, Freunde zu finden. Von seiner Mutter hatte er die stolze Art geerbt, die schlanke Gestalt, die braunen Locken, die feingliedrigen Hände und den überheblichen Gesichtsausdruck. Seine unbestimmt marmorgrünen, manchmal stechend klaren Augen, eine Mischung der Augenfarben seiner Eltern, verliehen ihm ein geheimnisvolles Aussehen und erinnerten an das Grün des Meeres.
Die meiste Zeit träumte er vor sich hin oder zeichnete auf lose Blätter die Sternbilder, die Großvater Nepomuceno ihm in den warmen Sommernächten im Teleskop zeigte. Die übrigen Knaben seiner Klasse waren nicht bereit, ihm seine Eigenarten nachzusehen. Jahre später kam Abel zu dem Schluss, dass der Mensch seine Persönlichkeit der Gesellschaft anpassen müsse, in der er lebte, auch wenn das bedeutete, dass man manchmal heucheln musste. In seinem Tagebuch, das er später
Das Buch ohne Namen
nannte, notierte er, dass der Mensch etwa bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr versuchen solle, so zu sein wie alle anderen. Nie aus dem Rahmen fallen, nicht der Größte sein, nicht der Kleinste, nicht der Dickste, nicht der Klügste und nicht der Dümmste, keine Segelohren haben, nicht schielen. In diesem schwierigen Alter sei es am besten, nicht aufzufallen, denn während in der erwachsenen Welt Originalität geduldet und sogar erwünscht sei, weil man das Außergewöhnliche schätze, müsse man bis zum vierzehnten Lebensjahr entweder ein unbeliebter Grobian sein, den die übrigen Jungen fürchteten, oder alles daransetzen, einer unter vielen zu sein, wenn man in der Schule überleben wolle.
Damals aber hatte Abel keine Ahnung von diesen Dingen. Bis er in die Schule kam, bestand seine Welt aus der Druckerei, wo ihm niemand je das Gefühl gab, sich fürchten zu müssen. Er wusste nicht, was Verpfeifen war, kannte sich nicht aus mit Großmäuligkeit, Beleidigungen und bösen Streichen und war nicht in der Lage, der Grausamkeit seiner
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