Der Turm der Könige
dir die Schriftstücke zeigt, die sich in seinem Besitz befinden, und zwar noch bevor er abreist.«
Als León und sein Sohn den königlichen Alcázar verließen, war fast niemand mehr auf der Straße. Es dämmerte schon, und der Himmel sah aus wie die Palette eines Malers: orange, rosa, tiefblau, schwarz … Man konnte noch den Mond und die Sterne erkennen, doch schon bald würde die Sonne aufgehen.
»Er hat etwas über mich gesagt«, murmelte der Junge, als er neben seinem Vater nach Hause trottete.
»Wer?«
»Der Botschafter.«
»Ja.«
»Was hat er gesagt?«
Er spürte erneut die Schläge, aber diesmal nicht auf der Lippe, sondern in der Seele. León lächelte.
»Er sagte, es gebe ein arabisches Sprichwort, das genau auf das passe, was dir heute in der Schule widerfahren ist.« Er wartete ein paar Sekunden, bevor er fortfuhr. »Das Sprichwort sagt: Grausamkeit ist die Stärke der Feigen.«
Abel lächelte ebenfalls.
***
ALS LEÓN DIE TÜR mit dem Schild HIER WERDEN BÜCHER GEDRUCKT öffnete, hatte er die Hoffnung, dass alle noch schliefen. Aber er hatte kein Glück. Seine Frau und Mamita Lula erwarteten ihn mit ungnädigen Gesichtern im Patio. In einer Ecke schnüffelte der braune Hund an einem Blumentopf, ohne dass sich jemand daran zu stören schien.
»Der Hund!«, rief Abel. Das Tier bemerkte die Ankunft seines Freundes und stürzte schwanzwedelnd auf ihn zu.
Julia kochte vor Wut. Sie hatte noch nie mit León gestritten, und schon gar nicht in diesem Ton. Aber als sie mitten in der Nacht wach geworden war und bemerkt hatte, dass ihr Mann nicht neben ihr lag und auch ihr Sohn verschwunden war, hatte sie die Nerven verloren. Ihr gingen die unheilvollen Warnungen ihrer Mutter durch den Kopf, die sich sicher gewesen war, dass dieser Mann sie irgendwann verlassen würde. León sei ein Pirat, und Piraten ziehe es immer wieder zurück zum Meer, so wie die Ziegen in die Berge. Julia packte die Wut bei dem Gedanken, dass es womöglich wirklich ein Leben nach dem Tod gab und ihre Mutter sehen konnte, wie León sie hinter ihrem Rücken verriet und verkaufte. Wenig später war ihre Wut verraucht, doch dann kam die Angst.
»Ich dachte, ihr wärt entführt worden!«
Julia warf ihrem Mann mit laut erhobener Stimme vor, was sie in diesen endlosen Stunden der Angst alles mitgemacht hatte. Sie ging im Patio auf und ab und schimpfte in einem fort: »Meine Mutter hat mich ja gewarnt« und »Ich werde zum Gespött von ganz Sevilla«. Da León nicht auf ihre Vorhaltungen einging, schien sie sich allmählich zu beruhigen, doch dann sah sie aus dem Augenwinkel, wie sich ihr Sohn vergnügt lachend mit dem Hund auf dem Boden wälzte, ohne sich im Geringsten um ihren Ärger zu scheren.
»Abel soll vor der Schule frühstücken«, sagte sie wutentbrannt zu Mamita Lula. »Und schaff sofort dieses verlauste Vieh aus dem Haus.«
»Nein!«, schrie der Junge auf und umklammerte verzweifelt schluchzend den zottigen Hundehals. »Wenn der Hund geht, gehe ich auch.«
»Widerlich! Fass ihn nicht an … Bestimmt hat er Flöhe. Ich will ihn sofort draußen haben.«
Aber als Mamita Lula aufstand, um Julias Anweisungen zu befolgen, hielt León sie am Arm zurück.
»Der Junge wird nicht mehr zur Schule gehen. Ich habe den idealen Lehrer für ihn gefunden, einen Franzosen, der ihn zu Hause in allem unterrichten wird, was er deiner Meinung nach wissen sollte«, sagte León, ohne die Stimme zu erheben. »Ach ja, und der Hund bleibt hier. Kein Wort mehr.« Dann drehte er sich um und verschwand in sein Schlafzimmer.
An diesem Tag begann Abel zu begreifen, wer sein Vater wirklich war.
***
ZWEI TAGE NACH DEM STREIT seiner Eltern wurde der Junge von der Sonne geweckt, die, statt wie sonst auf die Kommode, schon auf das Kopfende des Bettes fiel. Das bedeutete, dass es nach zehn war, und das an einem gewöhnlichen Werktag. Er schaute auf den Boden. Dort lag Turca und knabberte an einem seiner Pantoffel. Abel lächelte. Sein Vater hatte sich durchgesetzt.
Als sie den Hund in einer Zinkwanne gebadet hatten, hatten sie festgestellt, dass er gar nicht so braun war, wie sie zunächst gedacht hatten. Außerdem hatten sie bemerkt, dass es sich um eine Hündin handelte.
»Du könntest sie Canela nennen«, hatte Mamita Lula vorgeschlagen. Canela, das bedeutete Zimt.
»Sie heißt Turca«, hatte Abel erklärt, während er sie mit einem Tuch trockenrubbelte.
Jetzt blieb er noch ein wenig unter der warmen Decke liegen, bis er genug davon hatte und
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