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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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auf den Flur hinaustrat, ein wenig besorgt, was ihn dort erwartete. Zu seiner Überraschung hatte bislang niemand mehr ein Wort über den Vorfall verloren. Unten hörte er die Maschinen wie immer rattern. Seine Mutter lief zwischen den Angestellten umher und erteilte Anweisungen, ohne ihn weiter zu beachten. Sein Vater zwinkerte ihm von der Tür aus zu, und Mamita Lula versuchte, den Schaden zu beseitigen, den Turca an den Blättern der Orchidee angerichtet hatte. Als sie Abel sah, gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn und ging in die Küche, um ihm das Frühstück zu bringen. Alles war ganz ruhig.
    Gegen fünf Uhr nachmittags, als die ganze Stadt im Schatten das Essen verdaute und mit Fächerwedeln die Hitze vertrieb, erschien León erneut im Zimmer seines Sohnes, um ihn aus seinem Mittagsschlaf zu wecken.
    »Weißt du, was ein Geheimnis ist?«, fragte er ihn mit einem beunruhigenden Lächeln.
    »Etwas, das man keinem erzählen darf«, antwortete der Junge verschlafen.
    »Sehr gut. Heute werde ich dir ein Geheimnis verraten. Wir gehen zu einem Ort namens San Juan de Acre. Du bist Teil all dessen, und es wird Zeit, dass du das weißt. Aber du darfst keinem davon erzählen, auch nicht Mama und Mamita Lula. Verstanden?«
    Der Junge nickte mit geschlossenen Augen und rollte sich wieder zusammen, um weiterzuschlafen.
    »Los, mein kleiner Löwe, nicht so träge. Der marokkanische Botschafter will dich wiedersehen. Offenbar hast du ihm gefallen.«
    ***
    DIE HITZE WAR SO UNERTRÄGLICH, dass sie auf der Haut brannte, und daran war nicht die Sonne schuld. Der Himmel war bedeckt und mit schweren Wolken überzogen, die aus Wüstenstaub zu bestehen schienen und über der Stadt lagen wie eine Grabplatte. Nach einiger Zeit begannen dicke, fette Tropfen zu fallen, ein Regen, so warm wie Suppe. Als das Wasser auf die Gehsteige prasselte, klebte ein dunkler, nach feuchter Erde riechender Dunst am Körper wie ein nasses Leichentuch.
    Sie beeilten sich, denn die Wolken wurden immer schwärzer und dichter. Ein Donnergrollen war zu hören, Vorbote des drohenden Unwetters. Vater und Sohn rannten los und suchten Schutz unter den Dachvorsprüngen von Straßen, in denen Abel noch nie zuvor gewesen war. So gelangten sie zur Komturei San Juan de Acre.
    Der Junge bestaunte das strahlende Weiß der Mauern, das sich von dem blassen Gelb der Fenster und Türen abhob. Sie gingen durch einen dunklen Korridor und traten dann wieder ans Tageslicht, als sie in den Kreuzgang kamen. Man hörte die Regentropfen auf das Dach prasseln. Weiter hinten war ein kleiner Gemüsegarten zu erkennen. In den Kolonnaden hingen Käfige mit Tauben an den Wänden.
    »Das sind Brieftauben«, erklärte León seinem Sohn, als er seine Blicke bemerkte.
    »Brieftauben?«
    »Brieftauben sind wunderbare Tiere. Der Mensch bediente sich ihrer schon dreitausend vor Christus. Durch sie haben wir Kunde von vielen historischen Schlachten. Sie flogen weite Strecken, um die Herrschenden über die Siege und Niederlagen ihrer Armeen zu informieren.«
    »Darf ich eine haben? Turca würde es bestimmt gefallen, eine Brieftaube zu haben, mit der sie spielen kann.«
    »Besser nicht. So einem Hund kann man nicht trauen.«
    Sie erreichten die Eingangshalle des Hauptgebäudes des Ordens. Eine gewaltige Treppe führte nach oben, die von Buntglasscheiben mit Darstellungen der Heiligen Familie und des Erzengels Michael erhellt wurde. Der Erzengel war als Ritter mit Schild und Lanze dargestellt, der einen kleinen Teufel mit angstverzerrtem Gesicht durchbohrte. Unter einem riesigen Wappen aus grauem Stein teilte sich die Treppe. León wählte den rechten Aufgang, um oben in einem düsteren Labyrinth von Korridoren zu verschwinden. Abel konnte hinter offenstehenden Türen Räume mit uralten Büchern erahnen, die nach dem Staub und der Weisheit von Jahrhunderten rochen. Man hatte den Eindruck, dass an diesem Ort die Zeit stehengeblieben war.
    Am Ende der Gänge war wieder Tageslicht zu erkennen. Sie gelangten in einen Raum, der in romanischen Kirchen Narthex genannt wurde, eine vom Rest des Kirchenschiffes abgetrennte Vorhalle, die für jene bestimmt war, die nicht getauft waren. Dort erwartete sie der marokkanische Botschafter. Seine prächtige Kleidung stach zwischen den schlichten Soutanen der Mönche, in deren Begleitung er war, heraus. An der Nordwand hing eine Tafel mit einer rätselhaften Auflistung. Vor jeder Zeile befand sich entweder ein Kreuz oder ein Halbmond. Abel fühlte sich an die Schule

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