Der Turm der Könige
für diese Figur töten würden. Vielleicht hatten die Stadtbüttel sich geirrt, und in Wahrheit war nicht Carmona, sondern der schwarze Büßer, der ihnen in jener Nacht aufgelauert hatte, der Mörder seines Vaters. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Reglos stand er da und betrachtete den Elefanten und das Kalenderblatt in seiner Hand. Er konnte die beiden Dinge nicht zusammenbringen; er verstand nicht, in welchem Labyrinth er da gelandet war. Er beschloss, zu Julita zu gehen. Er musste mit ihr reden.
***
OBWOHL BÜRGERMEISTER OLAVIDE die Stadtreinigung in Sevilla neu organisiert hatte, roch es in dieser Nacht in den Straßen der Stadt nach einer Mischung aus Urin, Weihrauch und Rosmarin. In der Karwoche gab es zu viel nächtliches Treiben, maßlose Zechgelage und geselliges Beisammensein rund um die Uhr. Den Dreck, der dabei entstand, bekamen selbst die Kolonnen der Stadtreinigung nicht mehr in den Griff, die den Unrat zusammenkehrten.
Bevor Olavide an die Macht gekommen war, hatte jeder Bürger den Bereich rund um sein Haus sauber gehalten und ein paar Reales jährlich für die Abholung des Abfalls bezahlt. Üblicherweise hatten die Familien ihren Müll an die Einmündung der Straße gestellt, und einmal im Monat waren zu später Stunde, gegen Mitternacht, zwei städtische Beamte mit Pferden erschienen, die Holzplanken hinter sich herzogen. Darauf wurde der aufgehäufte Unrat geladen, doch meistens blieben faulige Reste an den Straßenecken, in den Kurven, in engen Gässchen und auf brachliegenden Grundstücken zurück.
Und so hatte es ständig nach den flüssigen und festen Ausscheidungen von Menschen, Katzen und Ratten, Gemüseabfällen, verdorbenem Fisch und fauligem Fleisch gerochen. In den ärmsten Vierteln hatte außerdem der furchtbare Gestank von Krankheit, Hunger und Verwahrlosung in der Luft gelegen, der nur nachließ, wenn der Himmel Erbarmen mit den Sevillanern hatte und einen reinigenden Regenguss schickte, der das Antlitz der Stadt reinwusch. Mittlerweile war es besser um die Sauberkeit der Stadt bestellt, jedoch bei solch großen Festen wie der Semana Santa kamen die Reinigungskräfte nicht mehr hinterher.
Nachdem er ein weiteres Mal mit der frommen Menge zusammengetroffen war, die nun inbrünstige
saetas
für die Jungfrau Maria sang, erreichte Abel die Calle Sierpes. Die Leute stießen und drängten, um freie Sicht auf die Prozession zu haben. Abel warf ein Steinchen an Julitas Fenster und wartete.
»Was machst du hier?«, fragte das Mädchen verschlafen, nachdem es das Fenster geöffnet hatte.
»Ich komm rauf. Mir ist etwas Unglaubliches passiert.«
Abel kletterte auf den Orangenbaum und schwang sich atemlos ins Zimmer.
»Jemand beobachtet uns«, sagte er zur Begrüßung.
»Was redest du da?«
Abel erzählte ihr, was ihm vorhin über Leóns Tod eingefallen war. Er erzählte ihr von dem marokkanischen Botschafter, der Schachpartie im königlichen Alcázar und von dem seltsamen Ort, an den ihn sein Vater am nächsten Tag mitgenommen hatte. Er berichtete ihr von dem Mönch, der sich um ihn gekümmert hatte, von dem achtspitzigen Kreuz und dem elfenbeinernen Elefanten und von seinem Versprechen, gut darauf achtzugeben, kurz bevor sein Vater für immer die Augen geschlossen hatte. Er erzählte ihr weiter, wie er bei der Beerdigung diese Schachfigur, die dem heutigen Läufer entsprach, in der Familiengruft versteckt hatte. Dort habe der Elefant jahrelang gelegen, ohne dass sich jemand für ihn zu interessieren schien.
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte Julita.
Abel berichtete hastig und ein bisschen wirr von seiner Begegnung mit dem geheimnisvollen Büßer, den Drohungen und seinem Besuch in der Grabkapelle. Dann verstummte er, atmete tief durch, schob die Hand unters Hemd und holte den Elefanten und das Kalenderblatt hervor.
»Das ist es, wonach der Mann sucht. Die Figur war in dieses Blatt eingewickelt, und das stammt ganz sicher nicht von mir. Jemand ist in die Familienkrypta eingedrungen und hat dieses Papier dort hineingelegt. Warum, weiß ich nicht.«
Julita nahm das Kalenderblatt. Sie betrachtete es von vorne und von hinten.
»Es sieht aus wie eine verschlüsselte Botschaft«, sagte sie.
»Kommt mir auch so vor«, seufzte Abel, »aber ich verstehe sie nicht.«
»Die Zeichnung auf der Rückseite ist ein Schachbrett, oder?«, mutmaßte das Mädchen und kratzte sich am Kinn. »Du spielst doch gerne Schach. Vielleicht ist es etwas Symbolisches, was meinst
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