Der Turm der Könige
Tag vor, bevor der Druckermeister aus der Tür ging.
Er gehorchte wie immer und verschwand mit den gerollten Pamphleten unterm Arm in Richtung Punta del Diamante. Dort war er mit seinen Kumpanen verabredet, um Karten zu spielen und über die Widrigkeiten des Lebens zu sprechen, was regelmäßig damit endete, dass sie den Kummer im Alkohol zu ertränken versuchten.
An wenigen Orten fühlte sich Cristóbal so wohl wie im Punta del Diamante. Die Eingangstür war aus bestem Holz und mit Eisennägeln beschlagen. Eingerahmt wurde sie von zwei steinernen Säulen mit korinthischen Kapitellen. Das führte die meisten, die zum ersten Mal kamen, in die Irre. Wenn sie erwarteten, sich in einem römischen Palast wiederzufinden, so hatten sie sich gründlich getäuscht. Das Punta del Diamante war ein eigenes Universum aus Zigarrenqualm, stumpfen Gläsern, Männern, rund wie Fässer, und Tischen, die den sauren Geruch des Weins ausdünsteten, der auf ihnen verschüttet wurde. Im hinteren Teil des Lokals gab es eine winzige Bühne aus losen Holzbrettern, die indes stabil genug war, um den wirbelnden Füßen von Manuel standzuhalten, der sich wie besessen zu den Klängen von Pepes Flamenco-Gitarre drehte. Manchmal kamen spätnachts die Ordnungshüter und raunzten den Wirt an, sie sollten gefälligst nicht einen solchen Lärm machen, die anständigen Leute müssten schließlich schlafen. Aber dann suchte der Wirt ihnen einen freien Tisch, stellte ihnen einen Krug Wein vor die Nase, und sie vergaßen die Beschwerde.
»Setzen Sie sich, meine Herren, gleich hier an der Bühne, und trinken Sie ein Gläschen, geht aufs Haus. Heute tritt ein Mädchen auf – Zucker, sag ich Ihnen, Zucker.«
Zu jener Zeit hatte La Niña Candela ihre ersten Auftritte im Punta del Diamante. Sie tanzte in einem langen, geblümten Rock, wie sie die Wahrsagerinnen trugen, einer weißen Bluse, die ihre gebräunten Schultern freiließ, und einem zu engen Mieder, das so fest geschnürt war, um einen großen Busen vorzutäuschen. Sie tanzte barfuß, und bei jeder Bewegung klirrten ihre großen Ohrringe und die Reifen um ihre Fußknöchel. Sie verzauberte jene, die zu viel getrunken hatten, und weckte fleischliche Begierden in denen, die nicht zu viel getrunken hatten. La Niña Candela hatte lange schwarze Locken, ein falsches Muttermal neben dem Mund und tiefschwarze Augen. Doch wenn sie die Maske der männerverschlingenden Verführerin ablegte, blieb nur ein dünnes, vierzehnjähriges Mädchen übrig, das tagsüber im Punta del Diamante putzte.
»Komm her und setz dich«, forderte Cristóbal La Niña Candela an diesem Abend auf, als der Auftritt zu Ende war. »Ich lade dich auf einen Wein ein.«
»Vielen Dank, der Herr, aber nein. Ich bin Künstlerin«, antwortete sie und sah ihn herablassend an.
Cristóbal lachte spöttisch auf.
»Auch Künstler müssen trinken«, erwiderte er, »und wenn du mich fragst, sind sie besser, wenn sie sich ein Gläschen Wein genehmigen. Sieh dir Manuel an: Je mehr er trinkt, desto besser wird der alte Gauner.«
La Niña Candela sah mit ihren riesigen schwarzen Augen herüber zu Manuel. Er saß allein an einem Tisch, den Zeigefinger an die Nase gelegt, und starrte mit trübem Blick auf die Schnapsflasche, die vor ihm stand. Sie senkte langsam die Lider, bevor sie antwortete.
»Das glaube ich nicht, mein Herr. Der Wein weckt das Feuer, aber nicht das Können. Und ich habe das Können im Blut.« Sie zeigte auf die Adern an ihren Handgelenken. »Ich muss es mir nicht antrinken. Irgendwann wird mein Name in großen Lettern auf den Plakaten eines Theaters stehen, und die wichtigsten Leute des Landes werden Schlange stehen, um mich zu sehen. Die Frauen werden so sein wollen wie ich, und die Männer werden mir Blumen und Schmuck in die Garderobe schicken lassen. Eines Tages werde ich reich und berühmt sein«, schloss sie, bevor sie sich umdrehte und ging. Sie konnte nicht wissen, dass sie eines Tages einflussreicher sein würde, als sie es sich in diesem Moment vorstellen konnte.
Cristóbal lachte erneut über den Ehrgeiz des Mädchens, obwohl es ihn im Grunde ein wenig ärgerte, dass alle Frauen, die ihm gefielen, tausendmal stärker, selbstbewusster und mutiger waren als er.
***
IN DIESEM JAHR WURDE ZUM ERSTEN MAL die überlebensgroße Holzfigur des schmerzensreichen Erlösers,
Nuestro Padre Jesús del Gran Poder
, bei der Karfreitagsprozession durch die Straßen Sevillas getragen. Die ganze Stadt wollte die neuen Dornen in
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