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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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seiner Krone sehen und die sechs restaurierten Engel, die das Podest an den Seiten schmückten. Deshalb kam Abel nur sehr langsam vorwärts. Die Menschentraube, die sich in den Straßen drängte, als der Zug der Bruderschaft näher kam, keilte ihn ein und hinderte ihn daran, dem direkten Weg zu folgen. Es war praktisch unmöglich, durch die Wand aus Gläubigen zu kommen. Er reckte den Hals, um zu schauen, ob die Menge irgendwo weniger dicht stand, doch die Masse wälzte sich dahin wie ein Malstrom. Zu seinem Unglück wurde er auch noch genau in die falsche Richtung geschoben.
    Abel musste immer wieder an die Begegnung mit dem unheimlichen Büßer am Guadalquivir denken. Er sog den Weihrauchduft ein, der sich mit dem Geruch von brennendem Wachs verband. Wie in Trance ging er weiter, am Zug der Büßer entlang, die schweigend und ganz in schwarze Gewänder gehüllt das Gnadenbild begleiteten. Im Schein der Kerzen, die sie vor sich hertrugen, glichen sie aufs Haar dem Mann, der ihm aufgelauert hatte. Abel bekam eine Gänsehaut. Die absolute Stille der Büßer, die nur von den regelmäßigen, dumpfen Trommelschlägen unterbrochen wurde, verstärkte seine Furcht. Die Augen, die hinter den Löchern der spitzen Kapuzen hervorfunkelten, schienen ihn zu beobachten.
    Im Gedränge nahm er den strengen Körpergeruch der Menschen wahr, die Tränen der frommen Frauen, die Hochrufe, die dem Christus und der Muttergottes galten, die feierliche Hochstimmung derer, die tanzend vor die Tragaltäre sprangen, ganz im Widerspruch zu dem schmerzlichen Ausdruck in den Gesichtern der Heiligenstatuen. Und dort, im Schutz der Menge, konnte er ihn spüren. Er spürte die Nähe des Mannes, der ihn bedroht hatte.
    ***
    GEGEN ZWEI UHR MORGENS stand Abel wieder vor der Tür der Druckerei. Er versuchte, so leise wie möglich aufzuschließen. Ihm strömte der unverwechselbare Honigduft der Armen Ritter entgegen, die Mamita Lula in der Karwoche für die Nachbarn, die Angestellten, die Mitglieder der Bruderschaft Los Negritos und die Bedürftigen, die vor den Kirchen bettelten, zubereitete. Gefolgt von Turca, die mittlerweile schon recht alt war, schlich er auf Zehenspitzen durchs Haus und stieg auf den Dachboden, wo seine Mutter in einer Schrankschublade die Schlüssel zur Grabkapelle der de Haros aufbewahrte. Als das Gnadenbild des schmerzensreichen Erlösers gerade die Plaza de San Francisco überquerte, trat er wieder auf die Straße. Er schlüpfte in die Kathedrale, ohne sich vom flackernden Licht der Kerzen verwirren zu lassen, die unheimliche Schatten auf die Mauern warfen. Er hielt sich in der Dunkelheit, weil er nicht gesehen werden wollte. Als er schließlich vor der Kapelle stand, steckte er den Schlüssel ins Schloss und betete, dass es nicht quietschte. Das Gitter gab nach, Abel trat ein und schloss es hinter sich wieder.
    Alles war noch genauso, wie er es in Erinnerung hatte: die geäderte Marmorkuppel, die beiden riesigen Bronzelampen, die das steinerne Relief mit der Darstellung der Heiligen Familie beleuchteten, das von zwei betenden Engeln flankiert wurde. Auf dem Altar vier Kandelaber, die Statue Johannes’ des Täufers sowie ein Kreuz, das von einem Adler gehalten wurde, der im Begriff war, aufzufliegen. Abel war nicht abergläubisch, aber in diesem Augenblick hatte er das Gefühl, die Toten zu verraten. Er blickte nach rechts, wo in goldenen Lettern der Name seines Vaters auf dem kalten Marmor stand.
    »Asad«, flüsterte er und strich mit den Fingern darüber. »Ich vermisse dich.«
    Er erinnerte sich noch genau an den Moment, als die Steinplatte aufs Grab geschoben wurde, und daran, was er damals, vor neun Jahren, dabei empfunden hatte. Dann blickte er zu der Nische mit der Vase, in der er den Elefanten aus Elfenbein versteckt hatte. Er schob die Hand in die enge Öffnung des Gefäßes und fühlte den Staub und die Spinnweben, die sich darin angesammelt hatten. Ein Schauder durchlief seinen Körper.
    Schließlich ertastete er auf dem Boden der Vase ein Bündel und schloss die Hand darum. Beinahe hätte er die geschlossene Faust nicht durch die Öffnung bekommen. Als er sie schließlich ins Licht hielt, stellte er fest, dass es sich tatsächlich um den elfenbeinernen Elefanten handeln musste. Aber er war in ein Stück Papier gewickelt, an das er sich nicht erinnern konnte. Es war ein Blatt, das aus einem Kalender herausgerissen worden war. Es zeigte den 24. Juni. An den Buchstabentypen erkannte er, dass es sich um einen Kalender

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