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Der Turm der Könige

Der Turm der Könige

Titel: Der Turm der Könige Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nerea Riesco
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aus der Druckerei seiner Familie handelte. Das Papier war an den Rändern bereits vergilbt. Jemand hatte den Rand sowohl auf der Vorder-, als auch auf der Rückseite für einige handschriftliche Notizen verwendet.

    Abel wurde von Angst übermannt. Einer Angst, die nichts mit göttlicher Strafe, den Toten oder armen Seelen zu tun hatte. Seine Angst war sehr real. Er verließ die Grabkapelle, so schnell er konnte, den Elefanten fest in der rechten, das Kalenderblatt in der linken Hand. Draußen mischte er sich unter die Menschen, die darauf warteten, dass der lange Prozessionszug der schwarzgekleideten Büßer mit der Christusfigur vorbeikam. Es dauerte nicht lange, bis er ihn in einiger Entfernung in der Menge ausmachte. Die Christusfigur schwankte wie in Trance über den Köpfen der Gläubigen, zum Takt einer traurigen Melodie, die tief zu Herzen ging. Man konnte hören, wie sich das Gewand an den Knöcheln rieb. Es war ein Geräusch, das sich anhörte wie seine schleppenden Schritte auf dem Weg, der ihn in den Tod führen würde. Ein Mann in der ersten Reihe stimmte mit Tränen in den Augen eine
saeta
an.
    Da sehe ich den Herrn in seinem Leid
    Beim Anblick des Kreuzesholzes
    Hört man nur noch
    Die Schritte der Träger.
    Mein Herz erbarmt sich deiner
    Nur die Gesundheit soll mich hindern
    Dich nächstes Jahr erneut zu sehen.
    Der leidende Christus war von Kerzenschein umgeben, von Weihrauch, den gemurmelten Gebeten der Gläubigen, dem unermesslichen Gewicht des kollektiven Glaubens. Er wirkte erschöpft, von Schmerzen gebeugt. Das schwere Kreuz auf den Schultern seines violetten Gewandes, zog er rhythmisch schwankend an der Kathedrale vorbei. Es war nur ein kurzer Augenblick, doch Abel kam es so vor, als ruhte sein Blick auf ihm. Zum ersten Mal in dieser ganzen Nacht fühlte er sich beschützt.

9 Portugal die Einen
    Das Schachbrett ist die Welt, die Figuren sind die Erscheinungen des Universums, die Spielregeln sind das, was wir Naturgesetze nennen, und der Gegenspieler auf der anderen Seite
ist unserer Sicht verborgen.
    THOMAS HUXLEY
    A ls Abel sah, wie sich der Schatten des schmerzensreichen Christus in der gebeugten Haltung des zum Tode Verurteilten entfernte, verließ er die Kathedrale. Er war gekommen, um den Elefanten aus Elfenbein zu holen und der Forderung des geheimnisvollen Büßers Folge zu leisten. Mittlerweile war er davon überzeugt, unnötige Gefahr abzuwenden, indem er dem Fremden die Figur aushändigte. Der Elefant spielte keine Rolle in seinem Leben. Er hatte ihm weder Vorteile noch Nachteile gebracht. Er hatte ihn nicht zu einem besseren Menschen gemacht, und jetzt war er ihm nicht nur keine Hilfe, sondern erschwerte ihm das Leben.
    Seit dem Tag der Beerdigung seines Vaters hatte er nicht mehr ernsthaft an den verflixten Elefanten gedacht. Die Figur war ein vages Detail geworden, das in der Flut von Empfindungen unterging, die ihn an jenem Tag der Tränen, des Kummers und der Selbstvorwürfe überrollten. Nun, da er ihn erneut in Händen hielt, kehrten schrittweise die Erinnerungen an die letzten Augenblicke im Leben seines Vaters zurück. Er erinnerte sich an die enge, verlassene Gasse, an die Vorahnung des Unglücks, Sekunden, bevor es passierte, und an die Erkenntnis der Gefahr, als er den Angreifer entdeckte.
    Abel erinnerte sich auch an das Aufblitzen des Messers und das dumpfe Geräusch, mit dem die Klinge ins Fleisch seines Vaters drang. Er erinnerte sich, dass es schwül gewesen war, fast schon Nacht, und alles Grau in Grau, bis das Blut seine Hände rot gefärbt hatte. Er erinnerte sich an die letzten Worte seines Vaters, das letzte Versprechen, stets das Kreuz auf seiner Brust zu tragen und auf diese Figur aufzupassen, die ihn nun in Schwierigkeiten gebracht hatte. Vor allem aber erinnerte er sich daran, dass der Unbekannte sein Opfer hastig durchsucht, das Geld jedoch liegen gelassen hatte.
    Zu Hause hatte er sich tausendmal gesagt, dass ein mieser kleiner Gauner León de Montenegro auf dem Gewissen hatte – ein Straßenräuber, der in der Eile vergessen hatte, den Beutel mit den Münzen an sich zu nehmen. Doch auf einmal war es Abel, als erwachte er aus einem langen Albtraum, als risse man ihm eine dunkle Binde von den Augen, die ihn in all diesen Jahren blind gemacht hatte.
    »Er hat kein Geld gesucht«, murmelte er.
    Bis zu diesem Abend hatte Abel geglaubt, dass niemand außer ihm von der Existenz des elfenbeinernen Elefanten wisse. Jetzt war er sicher, dass es Menschen gab, die

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