Der Turm der Könige
Consuelito heiratete, waren seine Schwiegereltern so nett gewesen, ihnen das große Schlafzimmer zu überlassen, und als sie aus dieser Welt schied, hatten sie nicht die Kraft gehabt, die Zimmer im Haus neu zu verteilen.
Cristóbal Zapata zog sich nicht einmal aus. Er streifte lediglich die Schuhe ab und warf sich aufs Bett, ohne sich zuzudecken. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der heftige Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, die Blitze, die sich auf dem Dach spiegelten, und dass er keine Ahnung hatte, was in dieser Nacht aus seinem Sohn Cristo geworden war.
***
WOLKEN ZOGEN AM NÄCHTLICHEN HIMMEL auf. Dass es in der Karwoche in Sevilla regnete, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ungeachtet der Bittgebete, dass der Himmel doch ein Einsehen mit den Prozessionen haben möge, ungeachtet der Kerzen für die heilige Barbara, die Sonne bringen und den Donner fernhalten sollte, ungeachtet der Rosenkränze, Novenen und Gelübde: In der Karwoche regnete es immer.
Nachdem er Julita verlassen hatte, war Abel losgerannt, um dem Regenguss zu entgehen. Ungeordnete Gedanken über die wahre Bedeutung des elfenbeinernen Elefanten und die kryptische Botschaft auf dem Kalenderblatt gingen ihm durch den Kopf. Er war immer noch aufgewühlt angesichts der Möglichkeit, dass der mysteriöse Büßer etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun haben könnte. Eines Vaters, der aus dieser Welt geschieden war, ohne sein Geheimniss zu lüften.
Ein Blick nach oben sagte Abel, dass es weiteren Regen geben würde. Der Himmel sah aus wie aus rotem Samt, als stünde er in Flammen oder, noch schlimmer, als hätte man ihn in Blut getaucht. Er beschleunigte seine Schritte, vorgeblich, um dem Regen zu entgehen. In Wirklichkeit aber lief er vor seiner eigenen Angst davon. Plötzlich wurde die Straße von dem grellen Licht eines Blitzes taghell erleuchtet. Gleich darauf fuhr ihm der Donner bis in die Magengrube. Das Gewitter war genau über ihm, und auf den schlammigen, mit Pfützen übersäten Straßen war keine Menschenseele zu sehen.
Abel begann zu laufen, während er an den Weg dachte, den er vor Jahren mit seinem Vater gegangen war. Auch damals hatte es geregnet. Sein Kopf dröhnte, so viele Fragen drehten sich in ihm: Bruder Dámaso hatte ihm eine Botschaft in seinem Geheimversteck hinterlassen. Wann hatte er das getan? Und wie war er in die Grabkapelle seiner Familie gelangt? Der Regen schlug ihm ins Gesicht und zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen.
Abel erreichte die Calle de la Estrella und traf dort auf die Mauer, die das Gebiet der Komturei San Juan de Acre umgab. Er ging bis zu dem ersten Zugang, den er entdeckte: ein hölzernes Portal mit goldenen Beschlägen. Er erkannte diese Stelle nicht wieder, betätigte aber trotzdem den Türklopfer und wartete ab. Nach einer Zeit klopfte er erneut. Nichts geschah.
Ihm war, als hätte er Schritte in der Straße gehört, und er drehte sich um. Hinter einer Straßenecke glaubte er die schwarze Kapuze eines Büßers verschwinden zu sehen. Ihm blieb fast das Herz stehen, doch er versuchte, die Angst zu beherrschen, indem er tief durchatmete. Aber sein Hals war trocken, und sein Herz raste. Es gelang ihm nicht, sich zu beruhigen. Er hämmerte noch einmal gegen die Tür. Wieder passierte nichts. Regentropfen rannen ihm übers Gesicht, in den Mund, in die Augen. Er hob den Kopf, und da sah er, dass jemand etwas mit Tinte auf den geweißten Teil des Türsturzes geschrieben hatte.
PORTUGAL DIE EINEN
Das konnte kein Zufall sein. Noch bevor er sich von seinem Schreck erholen konnte, spürte er wieder, dass er beobachtet wurde. Sämtliche Muskeln seines Körpers spannten sich an, und er rannte los, immer an der Mauer entlang, bis zum nächsten Eingang. Er hämmerte dagegen und presste das Ohr an die Tür, um zu hören, ob drinnen Schritte zu vernehmen waren, die ihm verrieten, dass jemand kam, um zu öffnen. Doch das Donnergrollen war ohrenbetäubend. Er betätigte erneut den Türklopfer. Nichts. Dann sah er wieder die Inschrift auf dem Türsturz.
PORTUGAL DIE EINEN
»Wieso Portugal?«, schrie er verzweifelt in den Regen hinaus.
Die Blitze beleuchteten die unheimlichen Grimassen der Wasserspeier, die ihrem Namen alle Ehre machten und das Wasser ausspuckten, das von den Dächern lief. Dabei machten sie ein gurgelndes Geräusch, als wollten sie sich über seine Panik lustig machen. In diesem Augenblick spürte Abel genau, dass der unbekannte Büßer dort war, ganz
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