Der Turm
schlafffleischigen Gruß.
Die Turmstraße war belebter, eine Kompanie Soldaten marschierte im Gleichschritt Richtung Bautzner Straße, vielleicht ins Waldcafé oder in die Tannhäuser-Lichtspiele oder, wahrscheinlicher, zum Tanz in die Paradiesvogel-Bar des Hotels Schlemm; nein, dachte Meno, als er bemerkte, daß der Kompanieführer Handbälle in einem Netz geschultert hatte, und erinnerte sich an eine schmucklose Bekanntmachung an der Litfaßsäule am Planetenweg: Freundschaftsspiel der deutschen und sowjetischen Waffenbrüder in der Turnhalle auf dem Sanatoriumsgelände. Aus der Sibyllenleite, von der Standseilbahn, kamen Menschen, einige ihm bekannte Gesichter darunter; Meno nickte Iris Hoffmann zu, die als technische Zeichnerin im Kombinat VEB »Pentacon« arbeitete, sie nickte zurück. Und da war schon die Eßkastanie vor dem Arbogastschen Institut, da war die Volkssternwarte hinter der Mauer, das breite, mit einem Blinklicht versehene Rolltor vor dem Pflasterweg zu den Institutsgebäuden an der Turmstraße, da der moderne Kubus des Instituts für Strömungsforschung am Beginn der Holländischen Leite, in die Meno einbog. Am Unteren Plan wartete er vor einem hohen, schmiedeeisernen Tor; das gotisch verspielte Rankenwerk flocht einen schwarzen Greif; die Spitze des Tores bildete eine Bienenlilie.
Schloß Arbogast zeigte sich im Glanz seiner Pracht. Die Bezeichnung »Schloß« trug es nicht offiziell, der Baron bevorzugte das schlichtere »Haus«, und so stand es auch auf einer Reliefplatte über dem Haupteingang an der weit geschwungenen Freitreppe. Viele Türmer nannten es »Schloß«, eine Bezeichnung, die noch ein weiteres Anwesen hier oben trug: »Schloß Rapallo« unterhalb der Sibyllenleite. Doch Schloß Rapallo wirkte südländisch, besaß die heiteren Formen des Mittelmeers, ein in den Norden versprengter Bau von der Riviera mit Schneckensteinen und spielerisch geschwungenem Dach, kein von Türmchen und nadelspitzen Dachreitern gezackter Palast wie der, vor dem Meno jetzt stand und der ihn eher an Vorzeittiere, ausgestorbene Saurier mit Panzerschuppen und Drachendornen als an ein Wohnhaus mit fließend warmem und kaltem Wasser denken ließ.Lichter gingen an und aus und schnitten wechselnde Szenerien aus dem Garten: die drei Fahnenmasten neben der Freitreppe wurden sichtbar, die Sowjetfahne in fahlem Rot, die schwarzrot-goldene mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz und die dritte Fahne, eine gelbe mit einem schwarzen Destillierkolben in der Mitte. Diese Fahne hatte Meno noch nie gesehen, vielleicht war es die Wappenfahne Derer von Arbogast. Leuchteten Fenster im östlichen Gebäudeflügel auf, erhellten sie die große Arbogastsche Sternwarte, die, mit weißem Stein verkleidet, wie ein Eulenei im abschüssigen Teil des Gartens stand. Bis siebzehn Uhr, dem Zeitpunkt, zu dem Arbogast Meno bestellt hatte, waren es noch einige Minuten. Meno griff ins Schmiedewerk des Tors, unschlüssig, ob er schon klingeln sollte. In diesem Moment begann eine Alarmglocke zu schrillen, Sirenen fielen jaulend ein; Lichter pufften im Garten auf und übergossen die Wege mit weißer Helligkeit. Eine Kamera auf einem Röhrenstativ fuhr wie ein Gespenst aus einer Bodenklappe, suchte einen Moment und schoß in sein ebenso entsetztes wie verblüfftes Gesicht einen Blitz ab, der ihn sekundenlang nichts mehr sehen ließ. Er taumelte zurück und tat gut daran, denn im nächsten Moment prallten zwei knurrende Körper gegen das Tor; in einem der beiden Hunde glaubte Meno, als die Blendung nachließ, Kastschej zu erkennen. Die Kamera surrte in die Erde zurück. Wieder hörte Meno die scharf gepfiffene »He-jo«-Bootsmanns-Quart, die Hunde ließen sofort vom Gitter und hetzten in weiten Sätzen in die Tiefe des Gartens, wo sie nach Augenblicken lautlos verschwunden waren. Eine neben dem Tor angebrachte Sprechanlage knackte, eine rostige Frauenstimme sagte: »Der Herr Baron ist über Ihr Kommen erfreut. Bitte benutzen Sie die kleine Tür in der Mauer neben der Gegensprechanlage.« Diese Tür war Meno noch gar nicht aufgefallen. Es war auch weniger eine Tür als ein schweres Stahlschott, das sich hob wie das Beil einer Guillotine. Meno umklammerte seine Aktentasche mit dem Manuskript und sprang durch die Öffnung. Am Eingang empfing ihn eine Zwergin in einer Haushaltsschürze, deren Taschen mit Wäscheklammern vollgestopft waren. »Guten Abend, Herr Rohde. Mein Name ist Else Alke, ich bin die Haushälterin des Herrn Barons. Er bittet Sie um
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