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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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hält der mich denn für meschugge?«
    »Wärst du nur gleich zu Onkel Richard gegangen!«
    »Und jetzt tut das weh, es hackt, ich kann nicht schlafen! Essigsaure Tonerde habe ich draufgemacht, aber es hilft nichts … Und ich habe eine Wut!«
    »Papa.«
    »Du hast gut reden, du weißt nicht, wie das ist mit so einer Wut … Und diesem Schmerz!« Ulrich schlug sich die Rechte vors Gesicht, das fleischig und in der unteren Hälfte dunkelblau vom Bartwuchs war. Ulrich hatte eine Glatze, darunter einen Kranz von südländisch dickem, wild wucherndem Lockenhaar, das Friseur Wiener mit leisen Flüchen bedachte, denn es machte seine Scheren stumpf; er hatte Haare auf dem Rücken und auf dem ansehnlichen Bauch, was Christian wußte, weil Ulrich es liebte, winters mit Badehose im Schnee umherzustapfen, sich heulend fallenzulassen, den »Adler« zu machen, was bedeutete, mit ausgestreckten Armen fächerförmige Spuren in den Schnee zu klopfen. Danach nahm er, falls sie nicht eingefroren war, an der Gartenbrause Abhärtungsduschen. Seine Augenbrauen waren so dicht, daß sie wie zwei Nacktschnecken glänzten, seinen Geschwistern Anne und Meno glich er nur in der Augenfarbe: braun mit grünen Sprengseln. »Nicht erinnerlicher Hammerschlag, hat man so eine dämliche Diagnose schon einmal gehört … Zumal ich ja kein Linkshänder bin.« Ulrich begann im Zimmer auf- und abzustapfen. »Dieser miese Bovist, ich bin jetzt wütend. Ich habe jetzt eine schöne Wut, ich kann sie nicht ungenutzt verpuffen lassen!« Er suchte eine freie Stelle auf Roberts Schreibtisch und schlug mehrmals, begleitet von angedeuteten Schreien, seine flache linke Hand darauf. »Raus damit, raus, raus!« Und rüttelte, rot im Gesicht von der Anstrengung, nichts kaputtzumachen und gleichzeitig seiner Wut vollen Dampf zu lassen, wie ein Berserker, dessen Tobsucht sich noch dadurch zu steigern droht, daß sie nicht richtig tobsüchtig seindarf und deshalb zum Lachen reizt, an den oberen Abschnitten der Tischbeine, stieß dabei aber Schmerzensseufzer aus, denn er griff mit dem geschwollenen Zeigefinger zu, preßte das Tischbein, als wäre es eine der langgestreckten Borthener Kartoffeln, die er unter allen Umständen zerquetschen wollte. Christian sah den Abdruck im Eisengeländer auf der Brühlschen Terrasse vor sich, den angeblich August der Starke mit seinem Daumen gesetzt hatte … Ina wippte gelangweilt mit den Füßen. Ulrich schien sich nun beruhigt zu haben, denn er starrte auf die Fußballbilder auf dem Tisch, stemmte die Arme in die Seiten. Jetzt würde es eine fußballologische Spezial-Viertelstunde geben: Ulrich konnte immer über Fußball reden und wußte schlechthin »alles« – zumindest wußte er genausoviel wie Robert, und das wollte etwas heißen.
    »Na, Christjan? Liegste mall darnieder? Unter Fernaus griff ’schen Händen? Und mehr gebösert als gebessert, denn nu isser schtumm, dei lieder-reischer Munt?« Das war Tante Barbara, in der Familie »enöff« genannt – sie sprach das englische »enough« sächsisch aus und verwendete es, zusammen mit einem resoluten Handkantenstrich, um etwas als in letzter Instanz erledigt zu kennzeichnen. »Wie geht’s in der Schule, mein Leib-Neffe?« Robert war ihr »Magen-Neffe«. Christian antwortete nicht gleich, was Barbara sofort beunruhigte, sie setzte sich aufs Bett, winkte Ina und Ulrich fort.
    »Flöckchen, ich wollte gerade mit ihm über Fußball sprechen –«
    »Enöff!«
    »Dynamo gegen BFC!«
    Christian schnellte hoch. »Wann?«
    »Enöff! Sage ich. Hinaus mit euch!«
    Ulrich versetzte Roberts Fußballnetz einen anerkennenden Fausthieb. Sein Gesicht verzerrte sich. »Schmusel, du mußt pusten!«
    »Papa, nenn mich nicht bei diesem Namen, wie oft soll ich dir das noch sagen?«
    »Raus mit euch! Es liegt ein Kranker hier, er braucht Schonung! – Hat er wieder seine Wut gehabt? Unglaublich, dieser Mensch. Und damit ist man verheiratet. Benimmt sich völligrücksichtslos, dabei bist du krank. Christjan, ich sage dir … Männer! Man gerät an sie als ahnungsloses Dummchen, und eh man sich’s versieht: schwupps – hat man ein Früchtchen im Bauch! Ich sage dir das nur, weil ich hoffe, daß du nicht auch so einer bist! Und fang’ mir ja nichts mit Ina an, das … wäre nicht gut. Was soll das werden, Cousin und Cousine … Neulich habe ich einen Artikel gelesen über die Risiken beim Inzest. Ihr dürft damit nicht fortfahren, glaube mir. Ich habe schon an mancher Tragödie geschnuppert! Ach

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