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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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die Lampe anschalten, ließ es aber; die Dämmerung im Raum beruhigte ihn; die Konturen der Gegenstände waren schon ins Dunkel gewischt, das sich von den nackten Wänden auszubreiten schien. Es roch nach Feuchtigkeit, Schimmel und Kartoffeln. Er wußte, daß es nicht gut war, hier unten lange zuzubringen, besonders nicht jetzt in der kalten Jahreszeit; im Frühjahr bis in den späten Herbst dagegen, wenn man das Fenster offenlassen konnte, war es warm, roch nach Terpentin und trockenem Holz, nach Farben und Waschbenzin. Er mußte sich umziehen, wenn er hier arbeitete, die Kleider nahmen den säuerlichen Kellergeruch an und wurden ihn nur schwer wieder los. Trotz aller Nachteile, die der Raum hatte, war Richard gern hier – abgesehen davon, daß es ein Privileg war, einen solchen zusätzlichen Raum für ein Hobby zur Verfügung zu haben; er hatte sich dafür mit der kleinsten Bodenkammer begnügt und Griesel davon sogar noch eine Ecke abgetreten. Im Arbeitszimmer konnte er ungestört sein – hier unten dagegen allein. Wie im Operationssaal herrschte auch hier nicht die Sprache der Worte, sondern die der Hände, die ihm vertraut war und in der er sich sicher fühlte. Er drehte das Licht an, freute sich über das Klacken, mit dem der Drehschalter aus schwarzem Bakelit einrastete; die noch von Vorgängern übriggebliebene Kohlefaden-Glühbirne warf ein Zelt aus Ocker in den Raum. Das Werkzeug war sein Stolz, und wenn er »Besitz« dachte, dann sah er nicht zuerst einen Kontoauszug vor sich, die Möbel in der Wohnung, den Plattenspieler, die Querner-Gemälde oder den Lada, sondern die Hängeschränke mit den aufgereihten Ring- und Maulschlüsseln, den Rohrzangen, Gewindeschneidern und Schneidkluppen-Sätzen, den Meißeln und Stechbeiteln. Kein Pfusch ausirgendeinem Volkseigenen Betrieb, sondern schwere Vorkriegs-Stahlware aus den Gesenkschmieden des Bergener Lands. Er sah die dreißig Schraubenzieher in der Segeltuchrolle mit den breiten Pferdelederriemen, Geschenk seines Meisters zum Abschluß der Schlosserlehre, aus einem Stück geschmiedet, Sechskanteisen, mit denen man hätte einen Menschen erschlagen können, am Griff mit der Siegelpunze des Werkzeugmachers versehen; er sah die alten Drillbohrer aus massivem braunem Eisen, für den Winter gefettet und zusätzlich eingeschlagen in Ölpapier, wie sie in maßgerecht zugeschnittenen Fassungen, vom kleinsten Mückenstecher bis zum fingerdicken Schiffs-Forgenbohrer, in einem Birnenholzkoffer lagen. Meno sprach oft von Poesie, und Richard konnte ihm nicht immer folgen, Meno schien sich dann in Regionen zu bewegen, die Richard nichts mehr angingen und nichts zu sagen hatten, aber eines verstand er – wenn Meno erzählte, daß es Arbeit kostete und man so etwas wie die Gedichte von Eichendorff, die er mit Begeisterung und Ergriffenheit vortrug, nicht an einem Tag machte. Daß es die Ahnung von etwas gab, das dahinterstand, und das Meno Vollkommenheit nannte. Und wenn Meno dann äußerte, daß seinen Erfahrungen nach einfache Menschen zu diesen Bereichen nur selten Zutritt hätten, was sie, die Versammelten, bitte nicht mißverstehen möchten, er wolle nicht überheblich klingen, aber das sei nun einmal ein Fakt, den freilich jeder wisse, aber nicht auszusprechen wage, weil sich dann die Partei mit der Frage konfrontiert sähe, ob nicht ihre Kulturpolitik, ihr Bild vom lesenden Arbeiter, auf falschen Voraussetzungen beruhe: dann mußte Richard entschieden widersprechen, ihm gefiel nicht, was sein Schwager über das Verhältnis von Arbeitern zum Lesen sagte. Er kannte genügend Gegenbeispiele, und Menos Behauptung widersprach auch ihrem Sinn für Schönheit und gediegene Qualität und damit für Poesie in einem anderen, aber nicht flacheren Sinn. O doch, er begriff Meno durchaus, auch wenn der es nicht immer anerkennen wollte. Die gleiche Empfindung von tiefer Befriedigung, von Glück vielleicht und vielleicht auch von Erlösung – daß es hier und jetzt einmal etwas gab, das nicht besser aus Menschensinn und Menschenhand hervorgehen konnte –, diese Empfindung, die er auf Menos Gesicht las, kannte auch Richard, nur löste keinGedicht sie aus, sondern diese Werkbank, und bei seinem Vater war es das Innenleben einer mechanischen Uhr aus der hohen Zeit der Glashütter Uhrenmanufakturen gewesen, Zeugnis von Handwerksfleiß und peniblem Tüftlersinn. Meno mochte darüber spotten und ihn innerlich einen Banausen nennen, der es wagte, ernsthaft einem Satz Schraubenzieher Poesie

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