Der Turm
sieht sie Möglichkeiten, die wir übersehen. Und ihr können wir vertrauen.«
»Ihr schon. Den Wanzen in ihrer Wohnung nicht. – Willst du es deinen Kollegen sagen?«
»Nein. Zumindest vorläufig nicht. Ich kann ihnen genausowenig trauen wie Sperber. Am ehesten noch Wernstein, aber wer weiß, gerade die vertrauenswürdigsten … Ich kann etwas anderes tun, bevor ich mich den Kollegen öffne. Ich kann annehmen.«
»Das willst du tatsächlich tun? Du willst für diese Lumpen arbeiten?«
»Anne – doch nur zum Schein! Ich liefere ihnen belangloses Zeug ab, stell’ mich dumm – und das solange, bis sie von selber merken, daß sie mit mir keinen guten Fang gemacht haben. Ich muß für sie völlig unbrauchbar sein, vielleicht habe ich damit eine Chance.«
»Glaubst du nicht, daß sie das merken werden?«
»Sicher werden sie das merken. Aber was wollen sie machen? Auch ein Oberarzt bekommt nicht alles mit, was in einer Klinik passiert. Und ist es nicht logisch, daß die Assistenten vor mir den Mund halten?«
»Und wenn sie dich provozieren? Was, wenn eine OP-Schwester etwas Verfängliches sagt, du tust so, als hättest du es nicht gehört, aber diese OP-Schwester gehört zu denen, und beim nächsten Treffen sprechen sie dich auf deine ›Unterschlagung‹ an?« »Das wäre doch unklug, meinst du nicht? Ich wüßte doch dann, daß diese Schwester dazugehört.«
»Und wenn sie dich nicht darauf ansprechen? Sondern stillschweigend ihre Schlüsse ziehen … und dir dann irgendwann die Rechnung präsentieren –«
»Wenn, wenn, wenn! Siehst du eine andere Möglichkeit?«
»Flucht.«
»Anne, sei doch nicht albern! Das ist doch nicht dein Ernst! Schon der Versuch ist strafbar, die hätten uns im Handumdrehen am Schlaffittchen, und dann landen wir hinter Gittern … Flucht! Wie stellst du dir das vor? Mit den Jungs? Oder sollen sie etwa hierbleiben? Sollen wir einen Tunnel graben, über die Ostsee schwimmen –«
»Dein Kommilitone hat es geschafft.«
»Der war Leistungsschwimmer, Anne! Hat allein gelebt und genau gewußt, worauf er sich einläßt! Wenn er gefaßt worden wäre, hätte er nur für sich einzustehen gehabt. Weißt du, daß sie die Karten fälschen? Hat mir neulich ein Patient verraten. Nach unseren Karten denkst du, du bist in der Bundesrepublik – in Wahrheit aber bist du immer noch in der DDR. Flüsse verlaufen nicht dort, wo sie den Karten nach verlaufen müßten, im Grenzgebiet sind Wege nicht eingezeichnet –«
»Jugoslawien –«
»Anne.«
Sie lachte schrill auf. Richard sah sie an. »Laß uns nach Hause gehen.«
Sie lagen wach nebeneinander, in ihren Betten, die sie am Beginn ihrer Ehe zusammengestellt hatten; einer lauschte den Atemzügen des anderen.
24.
In der Klinik
Noch immer faszinierten ihn die Geräusche im Haus; manchmal öffnete er die Tür seines Zimmers, um zuzuhören, der Spalt erschien ihm dann wie der Schallzylinder eines Hörrohrs, wie die mit Schleimhaut und Flimmerhärchen ausgekleidete Verbindung zwischen Mittelohr und Rachenraum (ihm fiel ein, daß er Lucie vom Kinderarzt untersuchen lassen mußte, sie schluckte häufig und klagte dabei über Schmerzen, verschleppte Mittelohrentzündungen waren gefährlich); er schloß, wenn er die Tür geöffnet hatte, die Augen und lauschte, denn man konnte an den Geräuschen nicht nur erkennen, was in der Klinik vor sich ging, sondern auch, in welcher Stimmung das geschah, wie die Atmosphäre war und wie sie sich, als wäre die Klinik ein kollektiver Organismus ähnlich einem Bienenschwarm, bei der geringsten Störung, bei der kleinsten Irritation veränderte. Jetzt war die Stunde, in der die Klinik sich auf den Abend vorbereitete; eine Zwischenzeit: die Arbeit des Tages war zum größten Teil verrichtet, die Frischoperierten lagen wieder in ihren Betten, waren versorgt und vom Nachmittagsdurchgang begutachtet worden, die Schwestern der Frühschicht und die Angehörigen der Patienten, die zur Besuchszeit kamen, waren gegangen; auch Vorlesungen und Seminare gab es zu dieser Stunde nicht mehr. Noch schepperten sie nicht durch die weitläufigen, mit PVC belegten Gänge der Klinik, die solid gebauten, mit Thermophoren beladenen Quaderwagen, die ihn an Schiffskoffer erinnerten, die die Schwestern von Zimmer zu Zimmer schoben, um den Patienten das Essen auszuteilen. Noch war das Kastagnettenklacken von Oberschwester Henrikes Holzpantinen nicht zu hören, die abends auf Inspektionsrunde durch ihr Reich ging. Sie lebte mit ihrer
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