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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Anne. Sie weinte nicht mehr, starrte ins Leere. Wieder fiel ihm einer dieser Abende ein, an dem das ganze Viertel unterwegs gewesen zu sein schien. Menschen, die einander umarmten, hatten schweigend und reglos auf den Straßen gestanden. Die Laternen warfen fahles Licht, das auf einmal verlosch, auch in den Häusern ringsum wurde es dunkel. Stromausfall. Dann war etwas Groteskes geschehen: Jule Heckmann, im Viertel allgemein »Pferde-Jule« genannt, war an der Seite der Zahnärztin Knabe in Gelächter ausgebrochen, ein männlich rauhes, aufschwellendes, dabei kreischendes und stechendes Lachen, wie er es noch nie zuvor gehört hatte; es hatte nach und nach alle Spaziergänger, auch die einander Umarmenden, angesteckt und ein sonderbar befreiend wirkendes, vitales, bald schluchzendes, bald brüllendes, sich in die Straßentiefen fortpflanzendes Gelächter gezündet; in den Häusern ringsum hörte man die Fenster aufgehen, plötzlich schrie jemand: »Bürokratismus!«, ein anderer schrie zurück: »Individualismus!«, wieder ein anderer: »Sozialismus!«, »Ich habe Angst!« rief eine Frau, »Ich ooch!« eine andere, und immer noch das Gelächter auf der ganzen Straße, unterbrochen von »Psst!«- und »Sei doch still!«-Rufen; »Bald gibt’s nischt mehr zu frressen!« rollte jemand mit verstellter Stimme, »In Wismar gibt’s kein Fleisch mehr!« kiekste es aus der Dunkelheit; »Ob’s Krieg gibt in Polen?« – »Beschrein Sie’s nicht, Gott im Himmel!« – »Ob die auch Angst haben?« brüllte eine Frau, in der Richard ZahnärztinKnabe zu erkennen meinte. – »Aber sicher! Vor uns!« und wieder erschütterte das Gelächter die Straße, auch aus den Häusern kam es, »Marxis-muhs!« – »Stalinis-muhs!« – »Mensch: Allgemeinismus!« Hundegebell war zu hören, sofort verstummte das Lachen, und die Menschen zerstreuten sich eilig. Jemand kam auf Richard zu, blieb nah vor ihm stehen, musterte ihn scharf, zögerte; es war Malthakus, er tippte sich mit der Krücke seines Regenschirms an den Hut, flüsterte mit seinem feinen Lächeln: »Na, Herr Nachbar, und was isses bei Ihnen?« und verschwand rasch in der Dunkelheit.
    Richard zog den Mantel enger zusammen, die Erinnerung an dieses Vorkommnis hatte ihn in Unruhe versetzt.
    »Sie versuchen also, uns zu erpressen«, sagte Anne; dieses »uns« registrierte er dankbar; aber sie suchte nicht seine Hand. »Wir müssen überlegen, was wir tun können.« Ihre Stimme klang jetzt wieder fest. Das gab auch ihm die nüchterne Überlegung zurück. »Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ich spiele mit – oder ich spiele nicht mit.«
    »Von spielen kann keine Rede sein«, erwiderte sie rasch und knapp. »Ausreiseantrag. Wir müssen hier raus. Wir könnten Regine fragen.«
    »Was willst du sie fragen? Wie man korrekt das Formular ausfüllt? Es wird nicht gehen. Die haben mir unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie mich nicht rauslassen werden. Ärzte werden hier zulande gebraucht … Es wäre Verrat an den Patienten, die Ihnen anvertraut sind …«
    »Die können uns doch nicht einfach festhalten!«
    »Doch, das können sie! Und dann sitzen wir hier, ich fliege aus der Klinik, was mir ja noch egal wäre, aber Robert und Christian … Wir hätten nichts erreicht!«
    »Wir müßten nicht denunzieren!«
    »Um den Preis, daß wir die Zukunft der Kinder aufs Spiel setzen?«
    »Aber Menschen zu bespitzeln, ist das kein Preis?«
    Richard antwortete nicht.
    »Es gibt auch die Möglichkeit, daß wir hierbleiben – und Christian und Robert können den Antrag stellen. Sobald sie volljährig sind –«
    »Anne! Was redest du da! Was würde passieren? Christian fliegt sofort von der EOS, und Robert werden sie gleich gar nicht zulassen.«
    »Christian wird in diesem Jahr achtzehn. Robert in zweieinhalb Jahren. Sie werden ohnehin Zeit verlieren. Bei der Armee. Ob sie also auf das eine oder andere warten –«
    »Du gehst davon aus, daß alles so läuft, wie du es dir vorstellst! Und wenn nicht? Wenn sie’s nicht zulassen? Wenn die Jungs nicht ausreisen dürfen? Weißt du genau, ob sie das überhaupt wollen? Wir reden hier über ihre Köpfe hinweg, vielleicht wären sie völlig überfordert?«
    »Vielleicht auch nicht? Reden wir doch mit ihnen!«
    »Und was sollen sie machen, während der Antrag läuft? Regine wartet seit zwei Jahren, und du weißt, wie’s ihr geht. Aus der Stadtverwaltung entlassen, vor allen Kollegen als Agentin des Imperialismus gebrandmarkt –«
    »– und

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