Der Turm
jetzt ist sie ungelernte Sekretärin im Joseph-Stift, und die Stelle hat sie auch nur bekommen, weil du den Ärztlichen Direktor kennst. Ich weiß!«
»Und unsere Jungs? Die würden sie aus Rache noch viel länger schmoren lassen, darauf kannst du dich verlassen! Dann sitzen sie hier, haben kein Abitur, können nicht studieren, müssen eine Lehre machen … Christian – was soll der lernen? Und vielleicht kommen sie niemals raus! Sitzen hier mit einem verpfuschten Leben … Glaubst du, das würden sie uns verzeihen?«
»Eine meiner Kolleginnen hat auch die Ausreise laufen. Sie arbeitet trotzdem bei uns, und ihre Tochter kann ihr Abi auch zu Ende machen.«
»Beim einen verfahren sie so, beim anderen so. Wer kann garantieren? Daß es bei uns so läuft wie bei deiner Kollegin, halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Willst du’s auf einen Versuch ankommen lassen?«
Sie gingen mit gesenkten Köpfen nebeneinander her.
»Wie steht’s mit Sperber? Könnte der nicht was tun?«
»Ich weiß nicht. Ich kenne ihn nicht besonders gut. Ich traue ihm auch nicht, ehrlich gesagt. Wir gehen ein enormes Risiko ein, wenn ich Kontakt zu ihm aufnehme und ihm alles erzähle. Was passiert, wenn er einer von denen ist … oder mit ihnenzusammenarbeitet? Denkst du, der steht nicht mit einem Bein bei denen? Vielleicht ist er überhaupt nur vorgeschoben? Ein Köder, den sie uns hinhalten.«
»Meno sagt, daß er einigen Autoren geholfen hat.«
»Mag sein. Aber selbst wenn er nicht zu denen gehört: Hilft er auch uns? Wer weiß, welchen Autoren er geholfen hat und in welchem Zusammenhang. Wenn einem halbwegs bekannten Autor ein Haar gekrümmt wird, jault doch die Presse drüben gleich auf, aber bei uns? Bei einem Arzt und einer Krankenschwester, die niemand kennt? Und denkst du, daß Sperber etwas machen kann, wenn die andeuten, daß daran kein Interesse besteht?« »Ich bin müde … Wollen wir uns einen Augenblick setzen?«
Richard nickte. Sie waren bis zum »Oktoberblick« gelaufen, wie das kleine, von einer Pergola umgebene Rund am Mondleiten-Park offiziell hieß; die Anwohner nannten es wie früher »Philalethesblick«, nach dem Künstlernamen König Johanns von Sachsen, des Danteforschers. In der Mitte des Plateaus stand ein Obelisk mit den Namen der Weltkriegsgefallenen aus dem Viertel. »Wollen wir bei deinem Bruder vorbeischauen?«
»Nein … Das möchte ich nicht. Er würde gleich vermuten, daß etwas nicht stimmt. – Auch darüber müssen wir uns klarwerden: Wie sagen wir’s der Familie?«
»Will gut überlegt sein, ob wir’s ihnen sagen.«
»Da gibt es für mich nichts nachzudenken. Natürlich müssen wir’s ihnen sagen!«
»Auch auf die Gefahr hin, daß wir nicht sicher sein können, ob nicht zum Beispiel Ulrich –«
»Er mag in der Partei sein, aber er ist kein Denunziant!«
»Was macht dich so sicher? Hast du mich nicht selbst vor ihm gewarnt, erinnerst du dich, auf dem Heimweg von der Felsenburg?«
»Aber es ist doch die Familie … So weit würde er nicht gehen!« »Weil er dein Bruder ist – und mein Schwager? Weil er die Jungs gern hat und mit ihnen ins Fußballstadion geht?«
»Weiß nicht. Ich kann es mir nicht vorstellen, daß er fähig wäre, dich anzuzeigen. Immerhin … Ja, vielleicht kann ich es mir nicht vorstellen, weil er mein Bruder ist. Vater hat uns weder zu Duckmäusern noch zu Denunzianten erzogen, weißt du, was ergesagt hat? Der größte Lump im ganzen Land – das ist und bleibt der Denunziant!« Sie zitterte, sackte nach vorn, weinte wieder; Richard spürte, daß sie seine Nähe jetzt nicht suchte, und trat an den Rand der Brüstung, in die ein schmiedeeisernes Geländer mit einem rostzerfressenen, stilisierten Nautilus eingelassen war. Dahinter fiel der Park steil ab. Im Tausendaugenhaus und im »Elefanten« gegenüber brannte Licht, bei Teerwagens wurde ein Fenster geöffnet. Musikfetzen, Stimmen, Gelächter. Man schien zu feiern. Wie unbeschwert … Richard verdrängte diesen Gedanken. »Wollen wir zu Regine fahren?«
»Nein … Nicht jetzt«, murmelte Anne. Er kramte in seinen Taschen, fand das Zwanzigpfennigstück, das er für Notfälle bei sich trug. »Ich könnte sie anrufen. Vorn an der Kreuzung steht eine Telefonzelle.«
»Es ist nett von dir, daß du mich abzulenken versuchst, aber … nein. Ich möchte nach Hause. Ich bin sehr müde.«
Er ging zu ihr, setzte sich neben sie auf die Bank. »Anne. Es würde uns vielleicht helfen, mit ihr darüber zu sprechen. Vielleicht
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