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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Sie aufstehen können. Und das können Sie erst, wenn der Bruch richtig verheilt ist.«
    »Ach, Herr Doktor, wenn ich nur gehen könnte –« Sie drehte den Kopf zum Fenster, begann zu murmeln, das feinesilbrigweiße Haar lag wie Spinnweben um das Vogelgesicht der alten Frau.
    »Ihre Tochter wird kommen, ganz bestimmt«, sagte Weniger. »Gott segne Sie, Herr Doktor, Gott segne Sie! Wissen Sie«, flüsterte sie mit schlauem Lächeln, »ich bin gar nicht verrückt, wie die im Heim sagen, ich … hab’ nur solchen Durst!«
    »Kommen Sie.« Richard nahm die Schnabeltasse, die auf dem Nachttisch stand, und gab ihr zu trinken, Weniger stützte sie. »So ein langes Leben …« Sie tastete nach Wenigers Hand, steckte etwas hinein. Er schüttelte den Kopf. »Lassen Sie mal, das brauchen Sie selbst dringender.« Er legte das Markstück auf den Nachtschrank. »Sehr nett von Ihnen, aber bitte – behalten Sie es.«
    »Zum Dank, ihr Herren! Kommen Sie wieder? Ach, es ist nicht gut, wenn man alt und allein ist.«
    »Wir müssen gehen. Hier, wenn Sie etwas brauchen.« Richard gab ihr die Klingel in die Hand und heftete die Schnur mit einer Sicherheitsnadel ans Laken.
    »Sie kommen aus den Pflegeheimen«, sagte Richard draußen. »Sie stürzen nachts auf dem Weg zur Toilette, brechen sich den Oberschenkelhals, werden operiert und müssen dann bis zur Heilung des Bruchs liegen. Zwei bis drei Monate, je nach Heilungstendenz. Dann liegen sie und bekommen eine Lungenentzündung. Und daran sterben sie dann.«
    »Wie bei uns«, sagte Weniger. »Pflegeheim-Bewohnerinnen, wundgelegen, unterernährt, verwirrt, weil sie Durst haben. Sie werden abgetan als alt und senil, sind es aber gar nicht, alles, was ihnen fehlt, ist ein bißchen Flüssigkeit. Bei uns werden sie gepflegt, blühen auf – und gehen zurück ins Pflegeheim.«
    »Das ist der Kreislauf«, sagte Richard. »Als junge Frauen kommen sie zu dir und gebären, als alte Frauen kommen sie zu mir und sterben. Sie haben nicht genug Personal in den Pflegeheimen. Davon steht nichts in den Zeitungen.«
    »Gibt es keine Methode, die es ermöglicht, daß sie nach der Operation gleich voll belasten und aufstehen können?«
    »Noch nicht. Verschiedene Arbeitsgruppen drüben forschen daran. Ich hab’ da neulich was Interessantes gelesen. Das Konzept ist eine Art überdimensionaler Nagel, den man zwischen Knochenkopf und Knochenhals anbringt. Hab’ den Artikel demTechnischen Direktor des Werks gezeigt, das unser Material liefert. Nur mal so, eine unverbindliche Erkundigung. Er rief mich an: ›Nichts zu machen, wir haben noch nicht einmal die Maschinen, mit denen wir die Maschinen bauen könnten, die dieses Ding bauen könnten‹.«
    Weniger trat ans Fenster, steckte die Hände in die Kitteltaschen. »Die Krebserkrankungen nehmen zu, signifikant. Brust und Gebärmutterhals, und bei immer jüngeren Frauen. – Sind übrigens alle deine Patienten so fromm?«
    »Sie war Kommunistin. Hat an der ›Roten Fahne‹ mitgearbeitet, war dann illegal tätig, ist nach Spanien gegangen, an die Front. Kurz vor Toresschluß Emigration nach Mexiko. Spät zurückgekommen, als die Moskauer hier schon alles in der Hand hatten. Dann hat sie beim Aufbau mitgeholfen, wich einmal von der offiziellen Linie ab und wurde auf einen untergeordneten Posten im Transformatoren- und Röntgenwerk versetzt. Und dann war sie alt.«
    Weniger nickte, musterte Richard von der Seite, der es wahrnahm, aber den Blickkontakt vermied.
    »Laß uns mal sehen, was euer berühmtes Abendbrot macht.«

    Der Dienst ließ sich ungewöhnlich ruhig an. »Keine Akutfälle?« fragte Richard in der Notfallambulanz.
    »Bisher nicht!« Wernstein breitete die Arme aus. Dreyssiger versorgte eine Sprunggelenksverstauchung, Routine. Die Schwestern drehten Tupfer.
    »Flau heute!« Weniger legte den Telefonhörer auf. »Meine schwierigen Geburten – schlafen!«
    »Dann gehen wir zu mir«, schlug Oberarzt Prokosch vor, der in der Ecke gesessen und Formulare ausgefüllt hatte. Er war ebenfalls einer der alten Leipziger an der Akademie, hatte allerdings zwei Jahre vor Weniger und Richard absolviert. Er war ein bulliger untersetzter Mann, den man eher für einen Ringer als für einen Augenarzt hielt. Niemand traute seinen kurzen, zigarrendicken Fingern die Sensibilität und das feinmotorische Geschick zu, die man für Operationen am Auge benötigte, die oft genug, wie Prokosch sagte, dem Abenteuer glichen, »aus einem Haar eine Stimmgabel zu

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