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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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andere Frau?«
    »Nein. Nein! Ich habe es dir doch gerade gesagt!«
    »Man bekommt einiges zu hören. Mir werden Gerüchte zugetragen.«
    »Gerüchte, Gerüchte! Sind dir diese Gerüchte auch nur einen roten Heller wert? Das sind doch Intrigen –«
    »Eine Kollegin hat eine Schwester, die in der Akademie arbeitet, eine andere war kürzlich Patientin in eurer Orthopädie –«
    »Dummes Geschwätz!«
    »Also keine andere Frau.«
    »Wie oft soll ich es noch sagen: Nein!«
    Diese Problem-Spaziergänge schienen sich in letzter Zeit zu häufen. Es gab Tage, da es ihm so vorkam, als hätten außer den Kindern sämtliche Bewohner des Viertels ihre Wohnungen verlassen und streiften murmelnd durch die Straßen, so daß unablässiges Grüßen, Huttippen, Winken die Flüstergespräche unterbrach. Wie grotesk das war! Er mußte lachen – brach ab. Daß er noch fähig war zu lachen! Anne sah ihn verstört an. Sie hatte sich dick eingemummt und klammerte die Hände an den Kragen ihres Mantels.
    »Du glaubst wohl diesen Tratschereien! Die versuchen mir was anzuhängen, vielleicht aus Neid –«
    »Die? Wer ist ›die‹?« Anne blieb stehen.
    »Nicht deine Kolleginnen.« Richard lehnte sich gegen einen Zaun. »Sie haben den alten Vorfall ausgegraben. Aus der Studienzeit. Damals in Leipzig.«
    »O mein Gott.« Sie schlug die Hände vors Gesicht, mußte sich neben ihn an den Zaun lehnen.
    Er begann von dem Gespräch zu erzählen, zuerst stockend, abgerissen, unzusammenhängend, dann immer drängender.
    »Aber was für einen Grund haben sie … Nach so vielen Jahren …«
    »Ich weiß es nicht.«
    Manchmal sah man mehrere Paare an einem Zaun lehnen, manchmal kam Arbogast vorbei, der einen sonderbaren Sinn für Komik hatte, mit seinem Stock schweigende Reverenz erwies und, wenn es ein Zaun in der Holländischen Leite war, Stühle aus dem Institut ins Freie bringen ließ.
    »Diese alte Geschichte … hast du mir damals alles erzählt?«
    »Ja – habe ich!«
    »Und Weniger … weiß er es?«
    »Nein. Nein, das kann er nicht wissen.«
    »Er ist dein Freund … Wie du mit ihm umgehst, ihm auf die Schulter klopfst, manchmal sehe ich dir zu und –«
    »Hör auf damit!«
    »Und habe Angst! Man sieht dir nichts an, nichts! Vielleicht belügst du mich, vielleicht hast du mich all die Jahre belogen, so wie du Weniger belogen hast –«
    »Anne! Kannst du das nicht verstehen? Kannst du das wirklich nicht verstehen? Ich … war anders damals, die fünfziger Jahre in Leipzig, du hast diese Stimmung nicht miterleben müssen, und ich war auch ehrlich überzeugt –«
    »So ehrlich, daß du einen Freund ans Messer geliefert hast! Mein Gott, ich lebe mit einem –«
    »Anne!« Richard war kreideweiß geworden. Er faßte sie an den Schultern, rüttelte sie. »Wir haben das doch alles schon besprochen, bis zum Erbrechen, bis ins kleinste besprochen, wirf mir das doch jetzt nicht wieder vor! Das wollen die doch! Die wollen, daß es uns auseinandertreibt, die wollen uns damit zerstören, weil … sie die Liebe fürchten, ja, das ist es. Weil sie den Zusammenhalt fürchten und …«
    Anne lachte schrill auf. »Die Liebe fürchten … Was redest du da für Unsinn! Du müßtest dich selber hören, wie … lächerlich und sentimental du klingst! Das paßt überhaupt nicht zu dir, und ich will deine pseudophilosophischen Analysen nicht mehr hören … Mein Gott! Richard«, sie hob die Hände, schüttelte sie gegen ihn, brach in Tränen aus.
    Er umarmte sie. So standen sie eine Weile. Richard starrte auf die Straße, Schatten bewegten sich und kamen näher. Er schloß die Augen, riß sie wieder auf, die Schatten waren verschwunden.Über die Gartenzäune quollen Baumkronen und Hecken mit ihren noch dürren und toten Ästen, ein milder Wind ging; in der nach Kohle riechenden Luft schleierte Grasgeruch. Anne weinte. Er sah das Blatt Papier mit den Zahlen vor sich, das Lucie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, die Sieben, die einen Hut trug, die zigarrerauchende Fünf. Er versuchte das Bild zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht, es kehrte immer wieder, die Zahlen schienen lebendig zu sein, bösartige Stehaufmännchen. Lucie, die zur Tür hereinkam, ihren Stoffbär im Arm, und über Bauchschmerzen klagte. Die lächelnden Puppen im Flur. Dann war es ihm, als ob Josta ihn ansähe. Er schüttelte den Kopf, doch auch dieses Bild verschwand nicht. »Laß uns weitergehen.«
    Sie schlugen den Weg zur Turmstraße ein und gingen eine Weile schweigend. Er beobachtete

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