Der Turm
pflegebedürftigen Mutter und ihrem Sohn, der zwei Lehren abgebrochen hatte, allein in einer engen Wohnung auf der Augsburger Straße, keine fünfhundert Meter von der Akademie entfernt, eine pummelige, mütterlich wirkende Frau, die sich wie ein Kind über die Hufelandmedaille in Silber gefreut hatte, die ihr zum »Tag des Gesundheitswesens« verliehen worden war. Telefone klingelten, im Bauch der Klinik rumpeltenWäschewagen; die Türen der Dienstzimmer nebenan schlugen auf und zu. Die meisten Kollegen waren noch da, sie hatten die Stationsarbeit erledigt und würden jetzt in die Bibliothek, die Laboratorien gehen oder Gutachten, OP-Berichte schreiben. Richard war auf sein Zimmer gegangen, um sich ein wenig auszuruhen; der Tag war anstrengend gewesen. Von sieben Uhr dreißig bis siebzehn Uhr hatte er im OP gestanden und nicht mehr zu sich genommen als drei Kaffee und die belegten Brote, die Anne ihm morgens zurechtmachte. Er hatte Dienst, aber man würde ihn nicht wegen jeder Kleinigkeit rufen; Dreyssiger und Wernstein waren erfahrene Fachärzte, er konnte sich auf sie verlassen.
Er legte sich auf die Pritsche, wälzte sich hin und her. Dann lag er auf dem Rücken und starrte nach oben. Krankenwagensirenen heulten heran, er hörte, wie ein Wagen der Schnellen Medizinischen Hilfe die Klinikrampe hinauflärmte. Rufe, eilige Schritte, das Gepolter der Krankentragen. Sie würden ihn anrufen, wenn es etwas gäbe. Er fand keine Ruhe, stand auf. Schwindel und Müdigkeit machten ihn benommen, er trat ans Fenster, um frische Luft zu schnappen. Der Schwindel verflog, aber die dumpfe Mattigkeit blieb. Er griff nach dem Fensterverschluß und lehnte den Kopf gegen die Scheibe. Dann versuchte er es mit Kniebeugen, vielleicht lag die Müdigkeit an mangelnder Bewegung oder an der ungesunden Haltung, in der man oft zu operieren gezwungen war, er war in letzter Zeit oft rasch erschöpft. Er setzte sich an den Schreibtisch, auf dem einige Fachzeitschriften aufgeschlagen lagen. Ein Artikel über eine neuartige Operationsmethode beim Morbus Dupuytren, einer tückischen Erkrankung der Beugesehnen der Hand, interessierte ihn; er hatte sich vorgenommen, ihn gründlich zu studieren, denn die Häufigkeit dieser Erkrankung schien zuzunehmen. In seiner Ambulanz hatte er allein in den vergangenen drei Monaten vierzehn Fälle gehabt. Die Erkrankung endete mit fast völliger Verkrüppelung der Hand, die Beugesehnen bekamen Knoten und bindegewebige Perlen, zogen sich zusammen; die Hand ließ sich im Endstadium der Krankheit nicht mehr öffnen. Wer waren die Autoren der Arbeit … Natürlich, die Hamburger Gruppe unter Buck-Gramko, dem Handchirurgen-Papst. Er hätte darauf wetten können. Es war seit Januar schon die fünfte Veröffentlichung aus dieserArbeitsgruppe, die er zu sehen bekam, und das Jahr war noch jung. Und sie, was machten sie, hier in diesem Land? Meist beteten sie nach, was die drüben ihnen vorbeteten, sie werteten die Entwicklungen aus, aber bestimmten sie nicht selbst, sie dachten darüber nach, wie die fremden Leistungen kreativ auf die hiesigen Verhältnisse zu übertragen seien, das hieß: sie improvisierten … Er las die wenigen Sätze, die die Studie zusammenfaßten. Danach wußte er, daß sie keines der Ergebnisse anwenden konnten, weil sie die technischen Voraussetzungen dazu nicht besaßen. Das alte Lied. Und da wunderte man sich, daß die Menschen davonliefen … Warum war er nicht davongelaufen, solange noch Zeit dazu gewesen war? Er konnte sich nicht mehr konzentrieren, schob den Artikel beiseite. Wie müde er war, selbst für sein Steckenpferd, die Handchirurgie, hatte er jetzt keinen Sinn. Er hatte überhaupt wenig Sinn für irgend etwas seit der Aussprache mit Anne … Aber er durfte sich nicht hängenlassen, das hatte er immer verabscheut. Bestünde die Welt nur aus Menschen, die sich hängenließen, sobald sie in Schwierigkeiten gerieten, man würde immer noch in Höhlen hausen und vom Jagen und Sammeln leben … Ein, zwei Kaffee und ein tüchtiges Abendbrot, das würde genügen, um ihn wieder munter zu machen, beschloß er. Als er das Fenster schließen wollte, sah er Weniger von der Gynäkologischen Klinik kommen.
»Richard!« Weniger winkte. »Wir haben zusammen Hintergrund-Dienst, schön! Vielleicht können wir ein bißchen schwatzen!«
»Fährst du nicht nach Hause?«
»Dann wäre die Pflichtassistentin allein. Wir haben einige schwierige Geburten anstehen. Wenn’s losgeht, würde sie mich sowieso
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